Ein weites Feld
Emilie allein reisen, und zwar wie früher, als Bahnfahrten ins Riesengebirge oder nach Waren am Müritzsee noch Abenteuer gewesen seien: »Borsigs Dampflokomotiven ja, aber nicht diese fahrbaren Untersätze …« Er tauchte in Vergangenheit ab, indem er die Mühsal aller Reisen des Unsterblichen in die Sommerfrische oder in Kurbäder aufleben ließ; doch Hoftaller war selbst auf frühesten Schienenwegen mit dem Kursbuch präsent und hatte ihn sogleich mit allen Eisenbahnverbindungen zur Zeit des Vormärz am Wickel: »Ein richtiger Reisekoffer sind Sie gewesen. Immer wieder nach Leipzig oder Dresden. Dieses Hin und Her – wir sprachen bereits darüber – erinnert mich an die häufigen Dienstreisen eines gewissen Luftwaffengefreiten. Kreuz und quer durch Frankreich bis nach Lyon. Also kein Wort mehr – versprochen! – über Dresden und die aschblonde Gärtnerstochter, doch ein paar klärende Hinweise auf wiederholte Abstecher als Nutznießer des französischen Eisenbahnsystems bis zu ner Stadt, in der ne Menge passiert ist. Liegt an zwei Flüssen. War schon immer Handelsmetropole: stinkreich. Und dort gab’s ne Gastwirtstochter, die vorm und hinterm Tresen fleißig war, weshalb ein reiselustiger Soldat in diesem Bistro bald als ne Art Dauergast galt. Blieb nicht folgenlos, weil der Bruder der Schankmamsell zur Résistance gehörte. Aber auch sonst hatte, was im Frühling begann, nach ner gewissen Zeit, ich sag mal, winterliche Folgen. Denn nachdem der Soldat im Sommer schon den Rückzug antreten mußte … Und weil die verlassene, ja doch, aus rein militärischen Gründen verlassene Madeleine, der kein Bruder mehr helfen konnte … Und überall nach der Invasion, besonders aber in Lyon reiner Tisch gemacht wurde … Weshalb man der armen Madeleine die aschblonden Haare ritschratsch … Na, Fonty, dämmert’s? Fing alles ganz harmlos mit ner Ruderpartie an, bißchen außerhalb, auf nein See, in dem es, wie überhaupt in dieser fischreichen Gegend, ne Menge Frösche gab. Weiß noch mehr. Könnt Ihnen stundenlang. Hab ja lange, vielleicht zu lange geschwiegen …« Grüne und rote Bojen leiteten das Motorschiff nach Schaprode. Ein Pulk Möwen machte die Reise mit. Fonty überließ sich dem Fahrtwind und sah mit Hut und leichtem Sommershawl vergangen aus. Wie er so an der Reling stand, wäre er als Hauptdarsteller in einem Ufa-Streifen »Der Schritt vom Wege«, Regle Gustaf Gründgens, vorstellbar gewesen. So deutlich dem alten Briest angenähert, hörte er eine ganz andere Legende und schaute dabei einer Formation Kormorane, dem Haßobjekt aller Fischer, nach, die in Richtung Gellen flog und an deren Spitze ständiger Wechsel den Flugkeil bestimmte. Fonty blieb arm an Worten, aber Hoftaller ging der Stoff nicht aus. Bis das Schiff in der Enge zwischen Rügen und der vorgelagerten Insel Oehe anlegte, zeigte er sich bedrohlich besorgt: Der Umgang und langjährige Briefwechsel mit Professor Freundlich könne sich schädlich auswirken. Eine zur Zeit noch verdeckte Aktenlage werde, wenn nötig, den Wissenschaftler belasten. Fonty möge dem gesicherten Spezialwissen bitte vertrauen: »Unter veränderten Bedingungen sind gewisse Freundschaften unpassend. Wir wollen doch da nicht reingezogen werden. Oder?« Nichts war von der Rückblende des Ufa-Films geblieben. Als sie von Bord gingen, hatte Fonty für Emmi nur einen Satz übrig: »Wird besser sein, wenn wir per Auto reisen, besser für dein Bein, versteht sich.« Emmi sagte: »Und ob ich verstehe.« Als sie auf dem Parkplatz zwischen westlichen Karosserien klein und eingeengt den automobilen Ausweis der einstigen Arbeiter- und Bauern-Macht fanden, sagte Hoftaller: »Den habe ich mir kurz vor der Währungsunion gesichert, fabrikneu. Fährt noch lange. Glauben Sie mir, Fonty, Einheit hin, Einheit her, es wird nochmal schick, in Deutschland nen Trabi zu fahren.«
Die Fahrt im Zweitakter verlief ohne Panne. Auch wir vom Archiv behalfen uns damals noch mit dem verspotteten Pappkoffer auf Rädern. Emmi sagte: »Viel geredet haben die beiden nich. Mein Wuttke mußte neben ihm sitzen. War ja ziemlich eng hinten. Und dann noch mit meinem schlimmen Fuß. Aber sonst konnt ich nich klagen. Nur gleich hinterm Rügendamm, nein, erst als wir schon Autobahn fuhren und dieser Stoppelkopp, wie unsre Martha den nennt, eine von seinen Stinkdingern hat rauchen gewollt, hab ich Zoff gemacht. Da kenn ich nix. ›Im Zug hätten wir Nichtraucher gesessen!‹ hab ich geschrien und ›Raus! Will
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