Ein weites Feld
endlos den weißen Ball hüpfen ließ, sah türkische Großfamilien und Radfahrergruppen; doch erst als er zum Café am See zurückruderte, sah er, was die Gegenwart für ihn bereithielt: Auf dem Steg des Bootsverleihs stand jemand und winkte mit seiner Baseballkappe. Hoftaller wollte auch rudern, nein: Er wollte gerudert werden. Doch Fonty war müde. Vor Ablauf der Stunde zahlte er und erhielt seinen Ausweis zurück: »Na, Opa? Hat sich schon ausgerudert?« Hoftaller ließ nicht locker: »Ein halbes Stündchen nur. Auf meine Kosten selbstverständlich …«
»Morgen ist auch ein Tag.«
»Abgemacht.«
Da Fonty keine Wahl zu bleiben schien, hob er die
Schultern, ließ sie fallen. Wenn es denn unbedingt sein müsse, dann in der Frühe. Vormittags sei auf dem See wenig Betrieb. Zwar rudere er lieber allein, doch diese Einladung wolle er annehmen, ausnahmsweise. Sie gingen und warfen einen gepaarten Schatten.
Zu vermuten ist, daß sie auf dem Weg zum nahen Bahnhof Zoologischer Garten eher belanglos geplaudert haben. Oder sollen wir sie auf der Lichtenbergbrücke sehen, die den Landwehrkanal überwölbt? Sie nahmen den Weg Richtung Brücke, weil der Trabi am Lützowufer geparkt stand. Schon wieder war es Hoftaller, dem Fonty zu folgen hatte.
Unterwegs zum Auto gebot an der Uferpromenade eine Gedenktafel Halt, auf der zu lesen stand, daß am Abend des 15. Januar 1919 die Sozialistin Rosa Luxemburg von Offizieren und Soldaten der Garde-Kavallerie-Division an dieser Stelle erschlagen und in den Kanal geworfen worden sei; nur hundert Meter weiter, am Einfluß zum Neuen See, habe man Karl Liebknecht ermordet.
Sie standen am Geländer, in das ein denkmalähnlicher Eisenguß eingelassen war, der in Großbuchstaben den Namen der Ermordeten in Erinnerung zu halten versuchte. Als Hoftaller auf einen gleichfalls in Metall verewigten Vermerk wies, der mit dem Jahr 1987 das VEBLauchhammerwerk als Kunstgießerei angab, und er außerdem wußte, daß der Arbeiter- und Bauern-Staat diese späte Initiative gefördert habe – »Über unsere Kontakte zu Westberlin lief das« –, sagte Fonty: »Die Dienste haben schon immer ganze Arbeit geleistet. Was die Tallhovers beginnen, setzen die Hoftallers fort, und sei es, indem die Mörder von einst ihren Opfern heutzutage Denkmäler stiften. Neunzehnneunzehn, übrigens unser Geburtsjahr; jedenfalls ist mir so, als seien wir dabeigewesen.«
Dazu sagte Hoftaller nichts. Seine alten Augen waren wie ohne Wimpernschlag, das Lächeln geronnen. Auch später, als beide im Trabi saßen, fiel kein weiteres Wort.
Erst in der Kollwitzstraße, wohin sie ohne Zwischenhalt fuhren, hatte Fontys Tagundnachtschatten genug angesammelt: »Haben mal wieder recht, Wuttke.
Nichts ist vergangen. Überall hängen Versäumnisse nach. Kein Wunder, wenn Tallhovers Biograph lauter Pannen aufzählt … Zum Beispiel hätte die Luxemburg total observiert werden müssen … Kautsky auch … Neunzehnhundertzehn ist Lenin wieder mal bei ihm … Und bei der Luxemburg in der Cranachstraße … Wir hätten operativ werden, hätten zufassen müssen, rechtzeitig, dann wäre bestimmt ne ganz andre Geschichte gelaufen … Ach, Fonty, manchmal frage ich mich wie Ihr Unsterblicher: ›Wozu das alles?‹ Werde müde … Lasse nach … Ist wie ne Sinnkrise … Brauche unbedingt Hilfe … Jadoch, wir werden uns aussprechen müssen, von Mann zu Mann, am besten schon morgen, beim Rudern … Will aber nicht vorgreifen. Ruhen Sie sich aus, Wuttke. Wird bestimmt anstrengend …«
20 Platzwechsel
Aber er kam nicht zur Ruhe. Den Abend lang und bis in die Nacht hinein strapazierte Fonty die rotchinesische Teppichbrücke in seiner Studierstube und wollte nicht auf Emmi hören, die immer wieder von der Küche aus anklopfte: »Nu laß doch das Rumgelaufe. Komm lieber was essen, Wuttke. Gibt belegte Schnittchen und Tomatensalat.« Er blieb beim Auf und Ab. Seit der Genesungsschrift über die Kinderjahre war er so anhaltend nicht unterwegs gewesen. Zwar hatte ihn kürzlich noch wer anders auf Reise geschickt, die arme Effi, deren schnell verbrauchtes Leben erst 94 vorabgedruckt und im Jahr drauf in gewohnt dürftiger Zahl, dann aber Auflage nach Auflage als Buch verbreitet wurde – da saß er schon am »Stechlin« –, doch jetzt erlebte er sich zurückgeworfen und wie auf verjüngtem Teppich. Frühe Erinnerungen gaben ihr Muster preis. Und alles wollte benannt werden: »Chinapomade und Salmiakpastillen. Gustav Struves Salomonis-Apotheke.
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