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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Fonty, als er allein mit sich auf dem Neuen See des Tiergartens ruderte, dennoch bei jedem Ruderschlag anderes Wasser unterm Kiel hatte, weil nämlich die schöntraurige Liebesgeschichte zwischen der aschblonden Plättmamsell und Weißnäherin Lene Nimptsch und dem Baron Botho von Rienäcker, der trotz seiner stattlichen sechs Fuß Länge von schwacher Natur war, beim Bootfahren begann. Und später kam es zu einer weiteren Wasserpartie, als beide ohne Frau Dörr, die bis dahin die Aufpasserin gemacht hatte, einen Ausflug aufs Land wagten. Mit dem Görlitzer Zug gelangten sie in die Nähe des Gasthofes Hankels Ablage an der Oberspree, die zum Rudern einlud. Erst nach der Kahnfahrt nahmen sie ein gemeinsames Zimmer. Doch was dort über Nacht geschah, steht nicht geschrieben. Kaum daß der Wirt Verlegenheit andeuten darf. Eine der vielen Aussparungen oder sollen wir Lücken sagen? In einem Brief an Otto Brahm aus dem Jahr 83 gesteht der Unsterbliche: »Ich kann wohl schildern, was einer Liebesgeschichte vorhergeht und auch das, was folgt, ja, für das Letztere hab ich vielleicht eine gute Begabung. die Liebesszenen selbst werden mir nie glücken …« Und uns gegenüber verteidigte Fonty das Weglassen »berühmter Schilderungen«, die er »Gipfel der Geschmacklosigkeit« nannte, mit Hinweisen auf die verräterischen Zettel von Crampas’ Hand, gerichtet an Effi: »Die sagen doch alles!« Obendrein mußten Lenes Briefe herhalten: Zwar habe Botho diese Liebesbeweise mitsamt ihrer mangelhaften Orthographie als »vernünftig und leidenschaftlich zugleich« empfunden, sie schließlich aber verbrannt, ohne Intimes oder gar Leidenschaftliches zu zitieren. Er ruderte in Ufernähe, gestreift von tiefhängenden Zweigen, dann wieder inmitten des Kunstsees und um die Vogelschutzinsel herum, wobei er anderen Booten geschickt auswich. Die Insel zog viele an, doch niemand betrat sie; alle achteten das Verbot. Fonty ruderte mit ruhigem Schlag. Auf der spiegelglatt moosgrünen Fläche warfen eine Ente, später ein Schwan mit sanfter Bugwelle keilförmig verlaufende Spuren auf. Manchmal hielt er die Ruder waagerecht überm Wasser, ließ sie abtropfen und das Boot treiben. Den Hut hatte er hinter sich abgelegt. Wir sahen ihn Haltung bewahren: ein wenig steif der gerade Rücken, etwas zuviel Pose; und doch erfreute er uns mit täuschend echtem Profil. Unbewegt saß der Greis, den Blick vom See und dessen Betrieb abgehoben. Die Sonne, wie sie nachmittäglich geneigt stand, schönte sein Haar.
    Vielleicht ist den tiefhängenden Zweigen der Uferbäume und dem frühherbstlichen Septemberhimmel jener Vierzeiler zu verdanken, den Fonty während solch einer Ruderpause in Reime gebracht hat; aber erst in einem späteren Brief wurde uns dieser Gelegenheitsvers bekannt, auf daß wir ihn hier überliefern: Beim Rudern streifte mich die Trauerweide, so nah dem Ufer war ich plötzlich angerührt, sah uns zu zweit im Boot und jung, doch beide der Liebe frühem Ende zugeführt.
    Dann tauchte er wieder die Riemen ein und gab sich mit mattem Schlag neue Richtung. Auf einem der Seitenarme, der nach längerem, von Biege zu Biege verzögertem Umweg wieder zur Mitte des Sees führte, ruderte er, vorbei an dichtem Gestrüpp und knorrig verwachsenen Bäumen, die mit ihrem Wurzelwerk im Wasser standen. Ein wenig unheimlich dunkelte es. Auf Ufersteinen gaben die Reste eines zerrissenen Kleides scharlachrot ein Signal. Plötzlich auf einer Bank, verschattet, ein onanierender Mann. Das stehende Wasser roch. Entengrütze. Kein Boot kam entgegen. Hinterhältige Stille … Nichts erfreute … Ohne hilfreiches Zitat … Erst als Fonty wieder ins Freie ruderte, hatte er Wasserpartien im Kielwasser, die bei günstigem Licht verliefen und auf Papier gedruckt stehen. Wir nehmen an, daß die Kahnfahrt auf der Oberspree von ihm nachgelebt wurde: Zwei Boote lagen am Steg zur Auswahl, als Lene und Botho in Hankels Ablage Quartier bezogen hatten. »Welches nehmen wir«, sagte Botho, »die Forelle – oder die Hoffnung?« Und Fonty zitierte Lenes Antwort so lauthallend, als wollte er ein Programm verkünden: »Natürlich die Forelle. Was sollen wir mit der Hoffnung?« Bei abermals eingezogenen Rudern hörte er dem Zitat nach, wischte mit dem Handrücken die Stirn, griff hinter sich, setzte den Strohhut auf, blickte unruhig zum Ufer, suchte Bänke und eine bis ans Wasser reichende Liegewiese ab, sah Paare und Vereinzelte, sah einen Jungen, der auf seinem Tischtennisschläger

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