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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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hervor. Sie ruderte ärmellos, die Knie eng beieinander, als sei ihr diese sportliche Haltung antrainiert worden. Die mageren Arme kräftig und muskulös. Ihre im Profil spitze, ich sagte zu meinem Kollegen: ein wenig vorwitzige Nase. Nun ruderte sie in weitem Bogen das Seeufer ab. Anfangs versuchte Fonty, sein eher schütteres Französisch zu bemühen. Weil Madeleine flüssig, mehr noch, überkorrekt und wie nach einem altmodischen Regelbuch Deutsch sprach, könnte der Großvater seine Enkeltochter zuallererst nach der Herkunft dieser sicheren und sogar den Konjunktiv pflegenden Kenntnisse gefragt haben, denn gleich nach dem Anrudern hatte sie gesagt: »Wüßte ich nicht, daß alles tatsächlich und am hellichten Tag geschieht, müßte ich glauben, mir träume etwas sehr Wunderbares.« Madeleines Antwort holte weit aus: Der vor wenigen Jahren verstorbenen Großmutter traurige Liebe, die alles Deutsche eingeschlossen habe, sodann das Verbot der Mutter, zu Hause oder gar bei Tisch irgend etwas Deutsches, und sei es nur einen VW oder eine Schwarzwälder Kuckucksuhr, zu erwähnen, ferner der versammelte und nicht enden wollende Widerstand gegen die einstige Besatzungsmacht, aber auch das Geheimnis um den verschollenen Liebhaber der Großmutter, den viele als Lump und niemand als antifaschistischen Helden erinnert hätten, all das und besonders die verkapselte Liebe der Großmutter habe sie dazu gebracht, als Kind schon, zuerst aus Trotz, dann aus Neigung diese schwierige und oft der Logik ferne Sprache zu erlernen, sie schließlich zu studieren und – seit dem Tod der Großmutter – die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zum Gegenstand ihres Studiums zu machen. »Monsieur können mir glauben, das war gewiß kein Kinderspiel.« Und dann begann Madeleine, während sie aufs Ufer zuruderte, eine Idylle auszumalen: In einem einsamen, kaum noch bewohnten Dorf in den Cevennen, wo die Großmutter noch vor Kriegsende und der Geburt ihres Kindes gezwungenermaßen habe leben müssen, sei ihr, dem anhänglichen Enkelkind, als Erbe ein Haus, gemauert aus Feldsteinen, zwar klein, doch voller Bücher, zugefallen, unter ihnen einige aus dem Besitz des entschwundenen Großvaters, von dem kein Photo, kein Brief, nicht einmal eine Postkarte gezeugt hätte. Und in dem Cevennenhäuschen mit den dicken Mauern und dem tiefen Fluchtkeller – »Monsieur müssen wissen, daß dort bis weit ins achtzehnte Jahrhundert die Hugenotten Zuflucht suchten« – habe sie während Ferienzeiten – »Und zwar mit grand-mère gemeinsam« -viele Erzählungen von Storm, Keller und Raabe lesen dürfen, aber auch »Irrungen, Wirrungen«, das Lieblingsbuch der Großmutter, zu studieren begonnen. So früh sei sie auf den Unsterblichen gekommen: »Keine sechzehn war ich, als mich grand-mère mit Lene und Botho bekannt gemacht hat.« Jetzt noch könne sie den Anfang der schöntraurigen, aber auch ein bißchen dummen Geschichte hersagen: »An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem ›Zoologischen‹, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei …« Noch immer ruderte Madeleine ihren Großvater in Ufernähe. Deutlich sah man die Muskeln ihrer Ober- und Unterarme. Sie ruderte mit Ausdauer. Bei eng geschlossenen Knien hielt sie den Rücken gerade. Unter spitzem Nasenwinkel lächelte ihr kleiner Mund beim Sprechen, während ihre Augen, die im schmalen Gesicht groß wirkten, ernst blieben, dunkel von soviel Klugheit und früh gesammeltem Wissen; ein immer aufmerksamer, von Heimlichkeiten am Rande des Sees – auf Uferwegen, hinter Holundergebüsch – nicht abzulenkender Blick, der uns dennoch nicht ausließ, sagte sie doch: »Attention, Monsieur! Hier hat alles Ohren, sogar die Natur. Vielleicht spricht man deshalb in Deutschland gerne von lauschigen Plätzchen.« Fonty, der seiner Enkeltochter ausgehungert und wie nach langer Fastenzeit zuhörte, stellte nur selten vorsichtige, nach Einzelheiten tastende Fragen: Ob in der Stadtmitte von Lyon noch immer der Bahnhof Perrache in Betrieb sei? Er habe von rasend schnellen Zügen gelesen, mit denen man in zwei Stunden schon Paris erreiche. Ob es im Vorort Limonest noch immer das Café de la Paix gebe, in dem einst Monsieur Blondin hinter der Theke gestanden und ihm, dem gottverlassenen Soldaten, einen und noch einen Pastis eingegossen habe?
    Und dann erst, ängstlich verzögert, wollte er wissen, welche

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