Ein weites Feld
kam, bat sie ihn, ihr zu erklären, weshalb der Unsterbliche, den sie nie beim Namen nannte, aber als »unser Autor« in Besitz nahm oder als »Monsieur X« mystifizierte, in seinen Romanen zulasse, daß immer wieder Standesbewußtsein die Liebe abtöten dürfe, und weshalb die Ordnung so traurige Siege der Vernunft verbuchen dürfe. »Bien sûr!« rief sie. »Sie werden mir jetzt die Gesetze einer ständischen Gesellschaft als zwar dünkelhaft, aber rechtens erklären und sich, wie unser Monsieur X, wenn auch bedauernd und voller mitleidendem Gefühl für die unglücklich Liebenden, an die standesgemäße Ordnung halten; doch mich hat diese resignative Tendenz oft sehr ärgerlich gemacht: Incroyable! Schon als Kind war ich, wenn mir grand-mère aus ihrem Lieblingsbuch vorgelesen hat, wütend, daß dieser langweilige Baron Botho die plapprige dumme Käthe, nur weil sie adlig war, zur Frau genommen hat und nicht seine Lene. Und dann hat er auch noch die Briefe, sogar alle getrockneten Blümchen, die noch von Hankels Ablage erzählen konnten und mit Lenes Haar gebunden waren, im Kamin verbrannt, damit nichts übrigblieb. Grand-mère hat immer gelacht, wenn ich wütend war auf unseren Autor. Doch einmal hat sie gesagt: ›Wie gut, daß mir Théodore keine Briefe geschrieben hat. Pas un mot! Man hätte sie gefunden, als man mich holte. Und geschrien haben sie: ’La pute à boches!’ Und bestimmt hätten sie seine Briefe verbrannt, wie sie mich am liebsten verbrannt hätten. Aber kahlgeschoren durch Lyon laufen war schlimmer als ein Scheiterhaufen.‹ Wenn grand-mère so etwas sagte, war sie ein wenig bitter. Sonst aber hat sie von Ihnen sehr lieb gesprochen und immer gelächelt dabei. Einmal, als ich den Sommer über die Ferien bei ihr verbrachte, sagte sie, als wir am Abend auf der Steinbank vorm Haus saßen: ›Bien sûr, mein Théodore war ein Verführer und obendrein ein Schwärmer. Er konnte von diesem Schriftsteller französisch-reformierter Herkunft, der sein Gott war, so einfühlsam sprechen, als wollte er ihn in jeder Phase seines Lebens nachleben. Oft wußte ich nicht, wer zu mir sprach, wenn er von sich, zum Beispiel aus seiner Kindheit, erzählte. Immer hat ihm der andere über die Schulter geschaut, so daß er mir, so blühend jung er war, oft wie aus anderer Zeit und uralt vorkam. Vielleicht waren deshalb seine Radiosendungen, die er heimlich mit uns gemacht hat, so erfolgreich. Die Résistance verdankt ihm viel, o ja. Mein Bruder, der die Deutschen wirklich gehaßt hat, war ganz verliebt in Théodore. Jung waren beide und ich noch jünger. Wie Kinder, so albern. Und doch haben wir sehr ernst für dieses Partisanenradio gearbeitet. Das war schön, wir drei in einem Boot. Eines hieß ’La Truite’, aber wir nannten jedes Boot ’Bateau-ivre’. Wir mußten ja, der Sicherheit wegen, häufig den See wechseln, was leichtfiel, weil überall stille Teiche zu finden waren. Und wo immer wir im Boot saßen, hat Théodore mit seiner leisen, aber ganz deutlichen Stimme aus Büchern gelesen. Und JeanPhilippe hat alles mit seinem Apparat aufgenommen. Ich durfte rudern. Ach, war das lustig – bis alles verraten wurde und sie unseren Jean-Philippe und die anderen auch, die heimlich das Radio machten, im Gefängnis Mont-Luc gefoltert und zu Tode geschunden haben. Nur Théodore kam davon, glücklicherweise … Doch mir hat später keiner glauben wollen, daß ich dazugehört habe, niemand, nicht meine Schwestern, sogar mein Vater nicht. Die Hure von einem boche war ich, die collaboratrice horizontale!‹ Das und noch mehr hat mir grand-mère gesagt. Sowas tut weh, nicht wahr? Doch nicht nur deshalb bin ich gekommen, Monsieur Wuttke! Oder darf ich zu Ihnen grand-père, nein, Großpapa sagen?« Sie durfte. Und jetzt kam Fonty zu Wort. Doch da seine Enkeltochter die Mitte des Sees anruderte, während er sprach, blieben wir zurück und in wachsender Distanz. Mehrmals ruderte sie den Kahn um die Vogelschutzinsel, war aus dem Blick, wieder da, abermals hinter Bäumen und Gebüsch und brachte sich und ihren Großpapa aufs Neue ins Bild. Dann sahen wir vom Ufer aus, wie Madeleine Aubron die Riemen einzog. Noch immer sprach Fonty mit sparsamen Gesten. Im sacht treibenden Boot hörte sie ihm zu. Wir ahnten ihren kleinen lächelnden Mund, die ernsten altklugen Augen. Nach langem Zuhören stand sie von der Ruderbank auf, ging, nein schwebte in ihrem blauen Hänger zum Heck, wo Fonty saß, nun ein wenig gebeugt. Sie umarmte ihn. Die
Weitere Kostenlose Bücher