Ein weites Feld
Schrecken das Kriegsende, bei aller Siegesfreude, mit sich gebracht habe, ob Madeleine Blondin in jenem einsamen Cevennendorf mit ihrem Kind ganz allein gewesen sei und weshalb das Kind – »Man sagte mir, meine Tochter heißt Cécile« – nicht später die Mutter zu sich nach Montpellier genommen und so deren Verbannung beendet habe. Die Enkeltochter versicherte, daß Lyons Bahnhof noch immer in günstiger Lage in Betrieb sei. Kummer und Ärger mit den Behörden, schließlich Krankheit gab sie als Grund an für den Verkauf des Café de la Paix in der Vorstadt. Schon Anfang der fünfziger Jahre wurde der verwitwete Gastwirt zu Grabe getragen. Gleich nachdem »La Terreur« als »épuration« inmitten Siegesfreude gewütet habe, sei die schwangere Großmutter kahlgeschoren in die Cevennen geflüchtet, heimlich nachts. Das einsame Haus dort habe leer gestanden und des Vaters Familie gehört. Und dort sei sie niedergekommen; nur eine alte Frau, die auf Kräutersuche war, habe ihr beigestanden. »Aber nein, Monsieur Wuttke«, rief Madeleine, »nie hat grand-mère sich wieder mit einem Mann eingelassen, so sehr verletzt ist sie gewesen. Und doch hat sie immer ganz liebevoll von einem Soldaten gesprochen, den sie als ein wenig schwärmerisch und absolut unmilitärisch in Erinnerung hatte und dem sie nichts Böses nachsagen wollte, obgleich er ihr, nach nur kurzem Glück, soviel Leid gebracht hatte. Mais non! Sie wollte von dort nicht weg. Da half kein Zureden. Maman, die ja schon mit siebzehn zuerst nach Aix und dann nach Montpellier gegangen ist, und auch mein Vater, Monsieur Aubron, haben sie immer wieder eingeladen: ›Viens, Maman! Wir bauen extra für dich den Dachboden aus!‹ Aber sie wollte nicht, wollte nicht unter Menschen sein. Und so blieb sie in dem Steinhaus, dessen Fenster so schmal wie Schießscharten sind. Ich bin sicher, Monsieur Wuttke, daß Ihnen grand-mère’s Festung gefallen würde. Alles ist voll Geheimnis dort. Steinkäuze gibt es. Auf dem Hügel hinterm Haus stehen dunkle Zypressen gereiht. Man sieht sie aus der Ferne schon. Exactement! Ein alter Hugenottenfriedhof. Und hinter dem Hügel weitere Hügel, die blau und blauer werden. Steineichen, Kastanienwälder. Wir könnten in die Pilze gehen oder Ausflüge machen nach Saint-Ambroix, Alès und noch weiter, bis in die Ardèche. Dafür habe ich sogar grand-mère gewinnen können. Mit meinem ›deuxchevaux‹ sind wir bis nach Barjac und weiter zu den Höhlen gefahren, von denen eine sogar ›Grotte des Huguenotes‹ heißt, weil sich dort die Reformierten vor der katholischen Miliz, den gefürchteten Dragonaden, versteckt haben sollen. Schrecklich waren die. ›Gestiefelte Missionare‹ hat man die Dragoner genannt. O ja! ›La Terreur‹ hat in Frankreich eine lange Geschichte …« Dann hörten wir nichts mehr. Madeleine ruderte das Boot in jenen Seitenarm des Neuen Sees, der gleich einem toten Gewässer modrig roch und in dessen einer Uferbiege das zerrissene scharlachrote Kleid auf Steine gebreitet lag. Aber Fonty hat uns gegenüber später beteuert, irgend jemand müsse den mordverdächtigen Fetzen weggeräumt haben, nichts Schreckliches habe die Stimmung eintrüben können, und gar nicht unheimlich sei seiner Enkeltochter der dunkle Wasserarm gewesen. Ich kann das bestätigen: Kaum war das Boot wieder in Sichtweite, sahen wir La petite gefragt und ungefragt plaudern. Noch lange hat sie ihrem Großvater die einsamen Cevennen, das festungsähnliche Haus der Madeleine Blondin, den Zypressenhain, aber auch das Elend hugenottischer Galeerensklaven ausgemalt und ihm erzählt, wie eine alternde Frau ihre nur kurz gelebte Liebe als Herzstück in Büchern suchte, die in einer Sprache hinterlassen waren, die fremd blieb, auch wenn sie erlernt wurde, zuerst mühsam allein, dann später, viel später mit dem heranwachsenden Enkelkind, das während Ferienaufenthalten rasch lernte und ihr, als die Augen in den letzten Jahren nachließen, sogar beim Schein der Lampe vorlesen konnte: immer wieder der armen Effi traurige Geschichte; mit welchen Worten die blasse Stine ihren Verzicht begründete; aber auch, wie entschlossen Lene Nimptsch ihrem Herzen befahl zu schweigen … Im Gegensatz zu ihrer Großmutter, die überall – und sei es zwischen den Zeilen Trost suchte und fand, war Madeleine Aubron eine kritische Leserin. Als sie ihren Großvater aus dem düsteren Seitenarm wieder auf die glänzende Fläche des Neuen Sees ruderte und abermals in Ufernähe
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