Ein weites Feld
saßen lange auf Fontys schattiger Lieblingsbank. In ihrem Rücken stritten Vögel um überreife Holunderbeeren. Wie immer, wenn vom Kommunismus die Rede war, kam Fonty auf das liegengebliebene »Likedeeler«-Projekt des Unsterblichen, das er im Balladenton als Epos gestalten und -wenn möglich – vollenden wollte: »Der Seeräuberei beschuldigt, nannten sie einander Gleichteiler, bis zum Schafott …« Doch Madeleine deutete auf das rote Ordensbändchen, das sie dem Großvater angesteckt hatte, und sagte: »So etwas kann man nicht teilen. Nicht jeder macht sich verdient. Ich bin sehr stolz auf meinen Großpapa.«
Fonty wehrte sich ein wenig: »Hab nur vorgelesen und wußte nicht mal genau, für wen, war kein Held!« Zu diesem Eingeständnis machte er ein amüsiert verlegenes Gesicht. Eine Weile sahen sie nur dem Haubentaucher zu. Und weil dieser Wasservogel das Prinzip des Untertauchens so anregend verkörperte, waren sie bald wieder in den Cevennen, bei den Hugenotten und Hugenottenkriegen, mithin bei den flüchtenden Glaubensgenossen der calvinistischen Lehre, die sich mal hier, mal dort versteckt halten mußten. Und schon wartete das verriegelte Haus der Großmutter, hinter dem auf rundem Hügel ernsthaft in Reihe Zypressen standen, abermals auf Besuch: »Ein solches Refugium könnte Ihnen gefallen, grand-père. Dazu die Weite, diese Leere, in der man sich leicht verlieren kann. Übrigens waren alle Blondins, selbst wenn sie sich für gläubige Kommunisten hielten, streng reformiert, und die Aubrons sind es noch immer, sogar ich ein bißchen.«
Dann gingen sie. Großvater und Enkeltochter nahmen den Rückweg in Richtung Königin Luise und weiter zum Kemperplatz. Hier, nahe der gleich einem gestrandeten Schiff hochragenden Philharmonie, doch immer wieder behindert und aufgehalten vom vielspurigen Verkehr, hätten wir sie beinahe verloren, wenn uns nicht sicher gewesen wäre, daß Fonty nur eines im Sinn haben konnte: Er wollte die Stelle finden, an der, nach früherem Verlauf der Potsdamer Straße, das dreistöckige Johanniterhaus 134 c gestanden hatte. Nahe der Rückfront der Staatsbibliothek, etwas mehr als hundert Meter von der Eichhornstraße entfernt, wies er auf einige übriggebliebene Linden. Sonst war da nichts, nur ein umzäuntes Übungsgelände, auf dem ein Züchterverein Hunde dressierte. Gebell, Kommandos, Staub, Ödnis und in ihr einige Großbauten von imposanter Verlorenheit. Hier hatten sie nichts zu suchen. Wohl deshalb schlug er seiner Enkeltochter einen kleinen Selbstbetrug vor -er sprach von »zwinkernder Wahrheit« -und rief, als er sie die Potsdamer Straße hoch bis in Höhe einer Bolle-Filiale und einer breitflächigen Videothek führte: »Hauptsache, die Hausnummer stimmt!« Nach neuer Numerierung lag der Gebäudetrakt 134 C zwischen Foto Porst und der Bülow-Apotheke. Unansehnliche Neubauten der Nachkriegszeit, denen einzig mit Hilfe einer historischen Adresse Bedeutung aufgeschwatzt werden konnte. Welch ein Unsinn, nach unserer Meinung; doch Madeleine spielte mit und ließ sich von Fonty leicht überzeugen: »Mögen meine Fußnotensklaven ihr papiernes Lächeln aufsetzen, ich sage: ein erlaubter Trick. Schloß Wuthenow und die Tempelhofer Kirche hat es auch nie gegeben. So verhält es sich mit der Literatur. Die Dichtung darf alles. Selbst Täuschung, wenn sie nur glückt, ist erlaubt. Deshalb ist jeder Hochstapler novellistisch angesehen ein Gott – und nur im übrigen ein Scheusal. Jedenfalls fällt uns zu 134 C mehr ein als bloß ledernes Archivwissen.« Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen beide so gedankenverloren, als könne der Verkehr und dessen Gebrüll sie weder stören noch in die Gegenwart zurückrufen. Fonty wies mit ins Leere greifender Geste auf alles, was sich herbeispekulieren ließ, und belebte sogleich den nichtssagenden Neubau: »Und hier, mein Kind, stand nach unserer zwinkernden Übereinkunft das Haus des Brandenburgischen Johanniterordens mit der Mansardenwohnung im dritten Stock, dem Vorgarten und dem Balkon überm Hauseingang, dem Klo auf dem Hof. War damals schon reparaturbedürftig. Wurde gegen Ende der zwanziger Jahre abgerissen. Nichts erinnert daran. Die in Berlin übliche Barbarei. Zugegeben: Wir wohnten beengt. Waren froh, als die Söhne außer Haus waren. Metes Kammer mitgezählt, vier Zimmer nur. Doch hier, soviel sei behauptet, wurde mit schwer verkäuflichen Büchern, dicken wie dünnen, der Unsterblichkeit das Fundament gelegt. Anno
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