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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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zweiundsiebzig, bald nach der Gefangenschaft und der zweiten Frankreichreise, kaum war der Alexis-Essay im Vorabdruck raus, kam es – am 3 Oktober übrigens -zum Einzug. Vorher mußte immer wieder die Wohnung gewechselt werden. Nach der Rückkehr aus London hausten wir in der Potsdamer 33, dann in der Tempelhofer 51. Nach dem ersten Wanderungsbuch hieß die eher miese Adresse Alte Jacobstraße. Umzug nach Umzug. Nur ein halbes Jahr später war in der Hirschelstraße der erste Roman in der Mache. Das schleppte sich hin., denn erst gut fünfzehn Jahre später kam ›Vor dem Sturm‹ hier, da oben etwa, in dem Mansardenloch zum Schlußpunkt. Und dann, Kind, ging es erst richtig los, kaum war der Sekretärsposten bei der Akademie abgeschüttelt. Da drüben – aber auch in der Sommerfrische oder allein in Klausur, zum Beispiel in Hankels Ablage ist eines alten Mannes späte Ernte eingefahren worden: vom ›Schach‹ bis zum ›Stechlin‹. Mal floß es nur so, dann wieder drippelte es mäßig. Oft quälte mich stundenlanger Nervenhusten. Reizte mich kolossal, wenn die Familie ›unsere traurige Lage‹ bejammerte. Und dann die Kritik. Eine Kette von Kränkungen. Schrieb an meinen Verleger Hertz: ›Immerhin, 510 Exemplare auf 60 Millionen Deutsche verkauft …‹Jedenfalls lagen vor gut hundert Jahren ›Irrungen, Wirrungen‹ vor. Und grad war ›Stine‹, mein bleichsüchtiger Liebling, erschienen, da kam in zwölf Bänden die erste Werkausgabe heraus, obgleich ja das Wichtigste noch im Tintenfaß steckte. Schon nächstes Jahr kann ›Unwiederbringlich‹ ein rundes Jubiläum feiern. Damals war die Treibelsche, deren Bagage übrigens ganz von heute sein könnte, im Manuskript so gut wie fertig. Ach, Kind, das alles kam hier, wo nichts geblieben ist, mit immer kürzer werdendem Blei zu Papier. Die Politik blieb draußen, kroch aber durch alle Ritzen. Nein, ging nicht zur Reichstagswahl, und nie haben wir auf Bismarcks Geburtstag geflaggt. Der Jude Neumann, uns gegenüber, auch nicht. Schrieb an Brahm oder Friedlaender: ›Arm in Arm mit Neumann fordere ich mein Jahrhundert in die Schranken!‹ Dann kam die Krankheit. Begann mit Effi. Gehirnanämie, sagten die Ärzte. Alles Mumpitz, diese Elektroschocks in Breslau. Endlich brachten die ›Kinderjahre‹ Heilung. Verkaufte sich gut, nicht nur auf dem Weihnachtsmarkt in Swinemünde. Aber was heißt schon gut: zweite Auflage. Gleich drauf ›Effi‹ zum Schluß gebracht. Aus einem Guß. Meine Emilie kam mit dem Abschreiben kaum nach. Denn bevor ›Effi‹ als Buch auf die Reise ging und erstaunlich viele Liebhaber fand, klopfte schon der alte Stechlin an, der aber gar nicht so alt war. Jedenfalls zählte er weit weniger als dazumal ich … Doch jetzt, Kind, muß ich mich setzen.« Fonty ließ seine auf ein Phantom weisende Hand sinken. Sogleich erschlug der Lärm des nachmittäglichen Verkehrs allen herbeigeredeten Zauber. Madeleines Fragen, die wissenschaftlich korrekt zurechtgelegt waren, beantwortete er in einem nahen Café, das überdies »Imbißstube« hieß. Am Fenster fanden sie einen Zweiertisch und bestellten Tee, der ihnen vom Wirt, einem mürrisch hinkenden Invaliden, in Papierbeuteln zum Ziehenlassen serviert wurde, dazu einen Weinbrand. Fonty wirkte ein wenig erschöpft. Madeleine versuchte, kein besorgtes Gesicht zu machen. Doch als die Enkeltochter des Großvaters Hand, natürlich die Schreibhand, zu streicheln begann und mit gleich zärtlicher Stimme »Darf ich fragen?« sagte, nickte er: »Frag nur, Kind, frag … Hoffentlich verwechsel ich nichts … Denn nicht das Vergessen, sondern das Verwechseln ist das Allerschlimmste, wenn man Moltke sagt, aber Bismarck meint oder umgekehrt …«
    Aber Madeleine Aubrons Fragen waren nicht auf Politisches oder das preußische Militärwesen erpicht. Zweieinhalb Stunden lang saßen sie in der Imbißstube, schräg gegenüber der besonderen Hausnummer. Sie hätte besser uns befragen sollen, denn als sie nach den »Poggenpuhls« zu forschen begann, genauer, die Funktion der wenigen Möbel in der Wohnung der verarmten Adelsfamilie erklärt haben wollte, wäre das Archiv mit breiterer Antwort dienstbar gewesen; Fonty nannte das dürftige Mobiliar einen »standesgemäßen Armutsspiegel«.
    Wir hätten ihr eine kommentierte Inventarliste vorlegen können. Und wäre dieses Gespräch, wenn schon nicht im Archiv, dann in der Kollwitzstraße und also in der guten Stube der Wuttkes, die wir den »Poggenpuhlschen Salon« nannten,

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