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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Stück der OttoGrotewohl-Straße zum Pariser Platz, wo Max Liebermann sein Atelier gehabt hatte, und dann durchs große Tor der diesmal nicht zitierten Einzugsgedichte, auf dem die Quadriga, weil nach Jahresbeginn in Reparatur, fehlte; die beiden gingen auf den Tiergarten zu. Gegenüber dem Sowjetischen Ehrenmal, zu dem als mittlerweile verjährtes Siegessymbol naturgetreu ein Panzer gehörte, bogen sie links ab. Er führte sie auf altbekannten Wegen. Sie henkelte sich bei ihm ein, ließ wieder los, hüpfte mit tänzelndem Wechselschritt mädchenhaft voraus, um als junge Frau abermals seinen Arm zu suchen. Er wies erklärend und mit knappen, manchmal wegwerfenden Gesten auf Denkmäler und Skulpturengruppen. Sie gab vor zuzuhören. Der beginnende Herbst bestimmte dem Tiergarten die Farbe, doch die Kastanien wollten noch immer nicht fallen. Vorbei an Friedrich Wilhelm III., dessen jeden Satz zu Kleinholz hackende Redeweise wir nachzuahmen gelernt hatten, aber Fonty war besser: »Wollen hier gnädigst geruhen … Oder bevorzugen Blick auf Luise … Dort Bänke genug …« Nein, sie mußten sich nicht verschnaufen. Erst als sie auf dem Großen Weg und dann auf Nebenwegen die schönste Aussicht zur Rousseau-Insel fanden, wollte Madeleine neben ihrem Großvater und auf dessen Lieblingsbank sitzen. Mit ihm vergnügte sie sich an den Kunststücken des Haubentauchers, der mal weg, mal da war, unverhofft, plötzlich, nach Lust und Laune; und nach jedem Auftauchen triumphierte seine elegante Frisur unbeschädigt. Madeleine rief: »Bravo!« Auch das brachte Spaß: auf einer Bank zu sitzen und allen Vorbeigehenden, unter ihnen Türkenfamilien, ältere Damen und dann und wann ein keuchender Jogger, teils witzig, teils boshaft nachzureden. Zwischendurch plauderte er über Schottland und das schottische Clanwesen, und sie nahm ihren reiselustigen Großvater übers Kalkgestein der Cevennen mit, bis hin zum verriegelten Haus der Großmutter, auf dessen kühler Schwelle Abend für Abend eine Erdkröte wartete. Madeleine hatte den Schlüssel, Madeleine wußte, wo Pilze standen, Madeleine war, wie ihre Mutter, ein Cevennenkind. Sie fragten einander ab, wollten alles genau, noch genauer wissen. Welche technischen Voraussetzungen für die Lesungen im Ruderboot notwendig gewesen seien. »Und die Geräusche des Wassers, die Vögel im Mal, die vielen Frösche?« Ob man bei den Tonbandaufnahmen immer zu dritt gewesen sei. »Hat denn grandmère überhaupt etwas von Tontechnik verstanden?«
    Wer den Vorschlag gemacht habe, für den Partisanensender aus den Kapiteln des Buches »Kriegsgefangen« zu lesen. »Waren Sie das, Großpapa, der die deutschen Soldaten an Schillers Jungfrau erinnern wollte?«
    »Nein, mein Kind, Jean-Philippe bestand darauf, daß ich von Domrémy bis zur Festungsinsel Oléron keine Station ausließ. Und die Stimmen der Natur störten überhaupt nicht. Habe sogar bei meinem Lesevortrag einem unermüdlichen Kuckuck zwischen den Sätzen Platz eingeräumt.« Danach die Frage nach dem Verrat: Wer hatte geplappert? Eine der Schwestern? Und wer kam nachts? Gestapo oder Gendarmerie? Die leisen Antworten: Wie Madeleine Blondins Bruder im Gefängnis Mont-Luc von deutscher Hand zu Tode kam. Wie von der Partisanengruppe, außer Madeleine, niemand übrigblieb. Wie Ende August das Gefängnis gestürmt und die noch Überlebenden befreit wurden. Wie Madeleine Blondin, weil entlastende Zeugen fehlten – alle tot, Théodore weggelaufen –, kahlgeschoren und im Schandhemd durch die Straßen von Lyon getrieben wurde, weil sie von einem deutschen Soldaten schwanger war. Später, als sie einsam in den Cevennen saß, hat man sie sogar der Verräterei verdächtigt. Und erst der Barbie-Prozeß brachte – »zu spät für grand-mère« beiläufig an den Tag, wieviel Unrecht sie hat erdulden müssen. »Bien sûr, ich habe nicht lockergelassen, bis alles aufgeklärt war und sie in allen Zeitungen eine Heldin genannt wurde. Ja, auch den Orden für meinen lange verschollenen Großvater habe ich beantragt und alles durchgeboxt, als sich die KPF wieder mal querstellte. Erst nach der Maueröffnung wurde die Übergabe bewilligt. Jedenfalls glaubte ich mich für eine kleine Zeremonie befugt. Nein, ich bin nicht Parteimitglied, obgleich das in meiner Familie Tradition ist. Eher verstehe ich mich als Trotzkistin, aber was das bedeutet, der wahre Kommunismus, das weiß ich immer noch nicht, vielleicht steht es mit dem wahren Christentum ähnlich …« Sie

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