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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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geführt worden, hätte Fonty angesichts des »Trumeau« anschaulicher geantwortet; aber nein, es mußte die Imbißstube in der Potsdamer sein und ein wackliger Zweiertisch. Dann ging es um die späte Ballade von den »Balinesenfrauen auf Lombok«, danach um Quellenmaterial allgemein und insbesondere für »Effi Briest«. Wir hätten vielleicht zu kühl und distanziert geantwortet; denn Madeleine fragte so unmittelbar beteiligt, als sei ihr persönlich – und gestern noch – der Zeitungsärger wegen des Einspruchs holländischer Kolonialherren widerfahren und als habe ihr erst kürzlich der Unsterbliche vom Fall jener Elisabeth von Ardenne erzählt, die zum Modell getaugt, aber die Veröffentlichung des Effi-Romans bis in die fünfziger Jahre des folgenden Jahrhunderts überlebt hatte. Nicht ohne Neid müssen wir anerkennen, daß die Enkeltochter vom Holze des Großvaters war. Wie er, so hatte auch sie keine Mühe, aus anderer Zeit und wie vorgestrig zu sein. Sie entsprachen einander eingespielt und hätten unsereins kaum bemerkt; nein, wir vom Archiv wären fehl am Platz und womöglich für kindische Eifersucht anfällig gewesen, wenn wir das Paar so eng beieinander gesehen hätten. Zudem hat Fonty mit Effis Vorbild, jener steinalten Elisabeth von Ardenne, einen jahrelangen Briefwechsel geführt, dessen Beginn der im Arbeiter- und Bauern-Staat forschende Physiker Manfred von Ardenne vermittelt haben soll. Fonty schwärmte sogar von Begegnungen während einer Zeit, in der man noch mit dem Interzonenpaß reisen durfte. Damit konnte das Archiv nicht konkurrieren. Madeleine war froh, von Elisabeth als einer überlebenden Effi zu hören; das Leben schien gnädiger als die Literatur zu sein. Als ihr der Großvater von einem Vortrag berichtete, den er zum Thema »Quellenmaterial und Fiktion« für den Kulturbund gehalten hatte – »Das muß im Dezember fünfundsechzig, gleich nach dem elften Plenum gewesen sein, als wieder einmal die Literatur auf Parteilinie gebracht wurde« –, räumte er ein, in »Irrungen, Wirrungen« den Fall der Lene Nimptsch quellengetreu verwendet zu haben: »Beide, das Original und der literarische Abklatsch, durften überleben; doch Effi war nicht zu retten, es sei denn, sie hätte die Crampas-Briefe verbrannt …«
    »Aber nein, Großpapa, dann hätten wir ja nichts zum Weinen gehabt!« rief Madeleine. »Und hätten Sie nicht originalgetreu gedichtet, wäre Lene womöglich aus Kummer gestorben. Ein ganz unnatürliches Ende! All die vielen Motivverkettungen wären umsonst oder, wie man sagt, für die Katz gewesen, und meine Magisterarbeit wohl auch, denn ich schreibe über kunstvolle Verknüpfungen von Motiven, zum Beispiel über den Immortellenkranz, das offene Ofenfeuer, die wiederholten Ruderpartien. Das gefällt mir sehr, weil es immer Nebensächlichkeiten und keine dicken Leitmotive sind. Verzeihen Sie, Großpapa, wenn ich Sie daran erinnere, wie Lene auf Bothos Wunsch – noch bevor sie in Hankels Ablage in einem Zimmer übernachten – den Wiesenblumenstrauß mit ihrem aschblonden Haar bindet, später jedoch, gegen Schluß, das getrocknete Sträußchen mit Lenes Briefen vom dummen Botho verbrannt, einfach zu Asche verbrannt wird. O ja! Da hab ich geweint, Großpapa. Richtig weinen mußte ich, wenn ich grand-mère in den Cevennen besucht und ihr vorgelesen habe. Könnte ich auch jetzt noch, darüber weinen …«
    Als sie gingen, trennten sie sich bei der nächsten SBahnstation; aber anderntags war Fonty wieder mit Madeleine unterwegs. Das Wetter hielt sich. Es waren die letzten Septembertage. Immer wieder der Tiergarten, die Lieblingsbank. Häufig liefen sie Unter den Linden rauf runter, und sei es, um die Stelle zu finden, wo die hochnäsigen Offiziere vom Regiment Gendarmes zu Zeiten Schachs eine verschwenderisch große Ladung Salz gestreut hatten, um auf dem Salz – bei sommerlicher Hitze – eine Schlittenpartie vorzutäuschen. Dann besuchten sie den Französischen Dom und im Turmhaus das Hugenottenmuseum, darin in einem verglasten Schrank die Belagerung von La Rochelle, woanders die gipserne Totenmaske Heinrichs IV., zwei Kacheln aus den Cevennen, die das Hugenottenkreuz abbildeten, viele Stiche und Bilder, unter ihnen Chodowlecki-Radierungen, die schreckliche Bartholomäusnacht und das berühmte Gemälde, auf dem der Große Kurfürst die Réfugiés empfängt, ferner ein Stadtplan der Handelsstadt Lyon, eine kaputte Harfe, eine Blechdose für die Kollekte und Sanduhren für die

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