Ein weites Feld
Beschallung keine intimen Gespräche zu. Was fragmentarisch von den Festreden anfiel, hatte, weil auf Wiederholung bedacht, den Reiz zauberischer Beschwörung: »… Wollen wir einig in dieser Stunde … Aus tief empfundener Dankbarkeit … Jetzt wächst zusammen … In dieser historischen Stunde … Mit tiefer Genugtuung … Was zusammengehört … Also wollen wir … Einig und dankbar … Aus tiefer … Aus tiefempfundener … Aber vor allem aus dankbarer Freude …« Dazu kam endlich passende Musik. Den großen Tag ankündigend, wurden Töne geboten, die fordernd oder erhebend waren und niemanden unberührt ließen. O ja! Ein Singen hob an. Entfesselt und chorisch gestimmt, begann der Schwellkörper deutscher Sangeslust zu tönen. So zündend war dieser Gesang, daß er nicht nur gehört sein wollte; denn als vom Reichstag her aus allen Lautsprechern der Schlußchor der Neunten tönte und gleich einem Naturereignis – die vieltausendköpfige Menge überschwemmte, hat sogar Madeleine Aubron mit feinem und doch tragendem Stimmchen so hell und richtig jedes Wort nachbildend im Chor mitgesungen, daß gleich darauf Emmi mit gar nicht üblem Alt in den Gesang einstimmte. Sodann haben andere, die nahe standen, unter ihnen wir vom Archiv, sich bemüht, die Hymne an die Freude mitzusingen, wenn auch nicht ganz so hell und richtig, wie es der zartbitteren Person gelang, die mit dem erhebenden Gesang – so kleinwüchsig La petite war über sich hinauszuwachsen schien.
Obgleich inmitten seiner Familie aufgehoben, stand Fonty abseits. Im herbstlichen Übergangsmantel behielt er den leichten Sommerhut auf, während Hoftaller, der sich diskret zurückhielt, seine Baseballkappe zog, sobald die gesungene Freude als Götterfunken übersprang, zündete, zünden sollte. Aber der barhäuptige Tagundnachtschatten sang nicht. Mitsingen war diesmal nicht seine Sache, doch kommentierte er mit kurzen Zwischentexten die immer wieder ausgerufene Freude, die zu umschlingenden Millionen, die zu Brüder werdenden Menschen und den Ort sanft wellenden Friedens auf seine Weise: ›Jadoch, freut Euch, ihr Wessis! – Wir packen, wir umklammern euch! – Klammeraffen, ha, richtige Klammeraffen sind wir. Wen wir umschlingen, der wird uns nicht los. – Nie mehr werdet ihr uns los. Von wegen Millionen! – Milliarden kostet euch das. -Wolltet ihr doch um jeden Preis. -Einheit! Freude! -Freut euch bloß nicht zu früh. Wird euch schon noch vergehen. Wird keine reine Freude. – Lief zwar alles nach Plan – Mauer auf: Freude!
- Blechgeld weg: Freude! – D-Mark da: Freude! Aber die Rechnung kommt. -Ist doch Schrott alles, habt ihr gesagt, billig zu haben. – Denkste! – Na, freut euch. Unter Brüdern, nun freut euch, verdammt! Ihr sollt euch freuen, nun los! – Ab heute, null Uhr, nur noch Freude!« Fontys Schnauzbart zitterte. Aber der Stock gab ihm Halt. Vielleicht hörte er nicht auf Hoftallers alles wegspülenden Erguß, sondern neigte das Ohr seiner verspäteten Enkeltochter zu, deren helles Stimmchen mit Emmis warmer, wir sagen, warmherziger Stimme korrespondierte. Soviel familiäre Harmonie, soviel Einklang hörte er gern. Vielleicht hat er sich seine Tochter Martha, die ja früher nicht nur Klavier gespielt, sondern oft gesungen und noch beim Hochzeitsessen »Bau auf! Bau auf!« geschmettert hatte, als dritte Stimme im Freudenchor dazugewünscht; sonst gegen Musik eingenommen, gefiel ihm dieser Gesang.
Erst als Hoftaller den über alle Lautsprecher vermittelten Kuß für die ganze Welt mit Schmatzlauten vermehrte und Jadoch! Machen wir! Ganze Welt abknutschen!« rief, »nur noch global wird geküßt!« und schließlich mit dem Ruf »Küßchen, Küßchen über alles!« die Hymne an die Freude erweiterte, versuchte er, seinen unsterblichen Nebenmann zu stoppen: Jetzt reicht’s, Tallhover! Haben ja furchtbar recht. Kolossaler Mumpitz alles. Steht mir jetzt schon fest: In dieser Einheit ist der Spaltpilz drin. Nun lassen Sie endlich das Geschmatze! Speiübel wird einem davon. Gehn wir, Hoftaller, los, gehn wir!« Doch weder Madeleine und Emmi noch sein Tagundnachtschatten waren loszueisen. Die beiden sangen sich hoch bis zum Sternenzelt, der andere rief: »Ach was, Wuttke! Soviel Freude muß man auskosten, hält ja nicht lange. Und wenn wir schon alle Brüder sind, dann richtig. Müssen die wissen drüben, daß wir ansteckend sind. Die sagen Schrott zu uns, wir machen aus denen Schrott. Die zahlen, wir zahlen zurück, mit Ostviren, ha!
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