Ein weites Feld
Jadoch! Ansteckend sind wir – wie die Freude. Mal richtig zugepackt und umschlungen -komm, Bruder! –, und schon sind alle infiziert drüben. Die wollen uns verwesten, wir verosten die einfach. Hier ein Küßchen schmatz! –, da ein Küßchen – schmatz! –, und schon sind sie schwach auf der Brust wie wir. Springt über so ein Funke, von mir aus Götterfunke. Bin schon Feuer und Flamme … Kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche, überall Deutsche …« Hoftaller konnte kein Ende finden. Immer schlimmere Krankheiten, Seuchen sogar, Pest, Cholera fielen ihm vereinigend und nützlich ansteckend ein, so viele Folgen der brüderlichen Umarmung. Energie ging von ihm aus. ›Jetzt geht’s los. Jetzt geht’s erst richtig los!« rief er. Als der Schlußchor der Neunten ausklang und bevor Jubel der kurzen und für kurze Ergriffenheit eingeräumten Pause folgen konnte, nutzte Fonty diese Frist – nur von fern hörte man einige Glocken, denn nicht alle Kirchen machten beim Geläut mit und sagte, mehr zu sich als zur Familie: »Zuviel Freude schnappt über« und mit mehr Stimme: »Von diesem Einigvaterland erhoff ich mir wenig.« Er wartete den Jubel nicht ab, löste sich aus der Menge und ging so entschlossen die Linden runter, daß Emmi und Madeleine, die anfangs »Bleib doch noch bißchen, Wuttke!« und »Bitte, Großpapa, nur zwei Minütchen noch!« gerufen hatten, ihm folgen mußten, mit ihnen Hoftaller. Bald hatten sie Fonty eingeholt. Emmi nahm seinen rechten Arm, die Enkeltochter henkelte sich links ein. Hoftaller blieb hinter ihnen bis Ecke Glinkastraße. Als die Familie ablehnte, in seinem Trabi, der dort geparkt stand, nach Hause zu fahren, und Madeleine »Monsieur Offtaler« mit kurzer Weisung »Sie sollten sich endlich zufriedengeben« verabschiedete, trennte er sich von Fonty und dessen Frauen: »Trotzdem, vielen Dank, daß ich dabeisein durfte. Sowas genießt sich in Gemeinschaft am besten. Heißt es nicht: Geteilte Freude ist doppelte Freude?« Doch bevor er ging, wies er mit dickem Zeigefinger zum Himmel über der Stadt. Sein Hinweis war so zwingend, daß ihm Folge geleistet werden mußte. Als Emmi und Madeleine mit Fonty himmelwärts guckten, rief Hoftaller: »Unsrem Kanzler gelingt aber auch alles! Hat keine Ahnung, was auf ihn zukommt, aber Vollmond pünktlich zur Einheit, das schafft er.«
Wir waren nicht mehr dabei, als alle gen Himmel schauten. Mit der sich auflösenden Menge verloren wir uns, aber auf spätere Fragen antwortete Emmi Wuttke: »Können Se glauben, das mit dem Mond. Stimmt, daß mein Wuttke, als der Stoppelkopp endlich ging, ihm nachgerufen hat: ›Vollmond ist gut, aber abnehmender ist besser!‹ So is er nun mal. Muß immer eins draufsetzen. Wenn ich ihm ne Tasse frisch aufgebrühten Kaffee hinstell, sagt er: ›Heißer Kaffee ist gut, aber lauwarmer ist besser.‹ Und genauso war es mit dem Mond, als wir die Einheit bekamen. Muß zu allem seinen Senf … Kann nich anders … Wie sein Einundalles is der. Wir haben dann noch unsre Marlen zur S-Bahn gebracht. Sie wohnte ja drüben im Studentenheim auffem Eichkamp. War das ein Gedränge inner Friedrichstraße und auffem Bahnsteig. Und geschubst haben die sich. Aber bevor die Bahn kam nach Wannsee rüber, hat mein Wuttke in all seinen Taschen gesucht. Was? Das raten Sie nich. Da kommt man nich drauf so schnell. Zwei Kastanien. ›Frische‹, hat er gesagt. ›Sind die ersten.‹ Und die hat er ihr geschenkt. Waren von unserm Hof, da steht ne Kastanie schon lange. Hat sich riesig gefreut, unsre Marlen, und gerufen, als denn die Bahn kam und sie rein mußte mit Drängeln und Schubsen: ›Die gehören jetzt für immer zusammen, Großpapa, weil sie mir am Tag der deutschen Einheit geschenkt wurden.‹ Dabei hat mein Wuttke sowieso jedes Jahr Kastanien in allen Taschen. Richtig ausgebeutelt sind die. Na, wir sind denn och mit der S-Bahn nach Haus über Ostkreuz bis Schönhauser Allee. Waren ganz leer die Straßen. Wo wir wohnen, da hat keiner gefeiert. Nur in paar Kneipen, wo Fernsehen lief. Da war mehr Glockengeläut zu sehn als in Wirklichkeit, weil ne Menge Pfarrer nich läuten wollten, drüben nich und bei uns nich. Aber mit dem Vollmond, das stimmt. Sogar bei uns überm Prenzlauer Berg stand er ganz deutlich. Sah richtig schön aus. Und mein Wuttke hat gesagt: ›Unsre Republik ist nun weg. Aber den da, da oben, den kann uns keiner nehmen.‹«
VIERTES BUCH
24 Von Brücke zu Brücke
Danach begann der Alltag. In dessen
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