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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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kalenderbestimmtem Verlauf herrschten wieder die Mühen der real existierenden Unsterblichkeit vor. Gefordert von unserer Arbeit im Archiv, zu der, neben dem üblichen Kleinkram, die manchmal anregende Betreuung in-und ausländischer Besucher gehörte, blieb keine Zeit für Außendienst, zum Beispiel für Ruderpartien und klammheimliche Uferpromenaden im Tiergarten, vielmehr mußten wir das sein, was unsereins von Berufs wegen, aber auch aus Neigung ist: ein Stubenhocker mit Rückgratschäden, dem der Geruch alter Papiere für alle jene Düfte Ersatz zu sein hat, die der Natur mündlich wie schriftlich nachgesagt werden; eine Skala, die von preußischen Kiefern und märkischen Dunghaufen über den Flieder nahe der Luisenbrücke reicht, zudem die Abgase der Potsdamer Straße bietet und hier Gerüche, dort Gestank meldet. Mit dem ihr eigenen Duft – sie roch zartbitter nach einem vermutlich aus Mandelessenz gewonnenen Parfum - kam, bis kurz vor ihrer Abreise, Madeleine Aubron ins Archiv, um Einsicht in den Briefwechsel mit Mete, den Söhnen, der Familie zu nehmen. Textorientiert, wie sie war, schloß ihr betont reserviertes Verhalten private Fragen aus; selbst angesichts der Briefe an Emilie, unehelich geborene Rouariet, adoptierte Kummer, erlaubte sie sich keinen Querverweis auf Emmi und die Wuttkes. Nur beim letzten Besuch wurde sie knapp, dann aber bestimmend familiär: »Gestatten Sie mir, bitte, die Erwartung auszusprechen, daß Sie sich weiterhin Großpapas Wohlergehen verpflichtet fühlen mögen. Er neigt zu plötzlichen Entschlüssen. Gelegentlich steigert er sich in einen Zustand, den er ›abattu‹ oder ›nervenrunter‹ nennt. Bien sûr! Er muß seiner Mission, die sich ganz und gar auf Monsieur X bezieht, in schwierigem und oft unübersichtlichem Gelände folgen, und daß er sich dabei gewissermaßen in sehr schlechter Gesellschaft befindet, ist weder Ihnen noch mir verborgen geblieben.«
    Und dann – kaum hatte »La petite« uns, nein, die Wuttkes und uns verlassen – kam, als müsse er ein Gegengewicht auf die Waage packen, Hoftaller zu Besuch. »Mir war heute so nach Archiv. Entschuldigen Sie, wenn ich einfach ins Haus platze.« Dabei ist er nie angemeldet gekommen. Er kam und war da. Eigentlich konnte sein Auftreten als Einzelperson untypisch genannt werden, untypisch für den Arbeiterund Bauern-Staat, dessen Wächter in der Regel zu zweit auftraten, einer den andern absichernd. Da aber Tallhovers Biograph seinen Helden betont einzelgängerisch angelegt hat, konnten und können wir Hoftaller nicht verdoppeln; allenfalls gelingt es uns manchmal, ihn vervielfacht, in Reihe gestaffelt oder gehäuft als Ansammlung zu sehen, doch immer mit Objekt. Nur Fonty hob seine Einsamkeit auf Ins Archiv jedoch kam er allein. Als Zubehör zählten wir zum Umfeld seines Objekts. Mehr noch: Indem sein Schatten auf uns fiel, standen wir und alle dem Archiv verpflichteten Vorgänger, die sich, gleich uns, im Dienst des Unsterblichen begriffen hatten, unter seiner Obhut, zumal sich seine Recherchen oft mit unseren kreuzten; zum Alltag des Archivs gehörte die Gewißheit, unter Aufsicht zu stehen. Hinzu kam, daß sich Hoftaller als außerdienstlicher Mitarbeiter sah. Daher rührten seine häufigen Abwandlungen des sprichwörtlich gewordenen Briest-Zitats: »Unser Material liegt auf zu weitem Feld. Deshalb sollten wir uns nicht in Einzelaktionen verlieren …« Gottlob kam er selten. Eigentlich handelte es sich um Routinebesuche. Ihm Hausverbot zu erteilen hätte Folgen gehabt; also nahmen wir hin, was zum Alltag gehörte. An häufige Besuche erinnern sich nur ehemalige Mitarbeiter: Während der Zeit des Aufbaus, als der Sozialismus nicht nur auf Transparenten unser aller Herzenssache war, gegen Ende der vierziger, zu Beginn der fünfziger Jahre verkehrte er regelmäßig mit dem Archiv, indem er sich nützlich machte. Ich erinnere mich: Wiederholt brachte er seit Kriegsende verschollen geglaubte Briefe, die, nach seiner Wortwahl, in »unbefugte Hände« geraten waren. Außerdem hat er doppelseitig beschriebene Manuskriptseiten, Aufzeichnungen zum »Likedeeler«Projekt, lauter Schätze, die wir verbrannt und längst verloren geglaubt hatten, so auch den einzigen Brief an Wolfsohn im Original gerettet oder, mit seinen Worten, »irgendwo aufgetrieben«; denn nie wurden Fundorte genannt, allenfalls wies er, wenn wir mit Nachfragen hartnäckig blieben, auf den Klassenfeind und die Gefahr des »kapitalistischen Zugriffs« hin;

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