Ein weites Feld
oder er sprach wieder einmal vom »zu weiten Feld«, einer Fläche, die ausgeschritten, vermessen werden müsse, so stetig sie wachse und sich ins Unermeßliche zu verlieren drohe. »Bilden wir doch ein archivierendes Kollektiv«, hieß sein zeitgemäßes Angebot, dem wir uns nur hinhaltend, aus heutiger Sicht allzu bänglich zu entziehen versuchten. Dennoch bitten wir um Verständnis, denn damals trat er kollegial und durchaus kenntnisreich auf; seine Hilfe abzulehnen wäre zwar mutig, doch im Sinn des Unsterblichen »kolossal dumm« gewesen. Nach dem Abebben der Aufbauphase, als alles nur noch »seinen sozialistischen Gang« ging, kam er lange nicht. Erst sein Biograph hat uns das Ende seiner teils beklemmenden, teils nutzbringenden Anwesenheit zu erklären versucht. Jedenfalls kamen nach den dreiundfünfziger Unruhen dem Archiv keine neuen Funde ins Haus. Schon hofften und bedauerten wir zugleich, außerhalb des von ihm observierten Umfelds zu liegen. Auch schien nach dem Mauerbau eine Zeitlang gewiß zu werden, daß nun, dank der Errichtung des Schutzwalls, die Periode der Observierung vorbei sein dürfte. Wir täuschten uns. wie sich sein Biograph mit Hilfe einer fiktiven Todesanzeige selbst getäuscht hatte. Schon bald lastete wieder sein Schatten, besonders nach dem elften Plenum, als alle Hoffnung zunichte war: und nach dem Mauerfall, als mit uns viele glaubten, daß fortan der Zwang zur kollektiven Zusammenarbeit ein Ende gefunden habe, täuschten wir uns abermals. Für Hoftaller gab es keine Brüche und Nullpunkte, nur fließende Übergänge. Gerne sprach er im Plural: »Wir sind dabei, uns neu zu orientieren …« Er sagte: »Die Dienste finden sich wieder.« Und: »Unser Konzept für operative Vorgänge beginnt zu greifen.« Alles ging weiter, wenn auch nicht mehr seinen sozialistischen Gang; und wie nach der Einheit Hoftallers Tätigkeit im Haus der Ministerien kein Ende fand, vielmehr neuen Aktivitäten folgte, die an dieses Gebäude gebunden waren, so blieb er Fonty und mit Fonty uns auf den Fersen, als nach dem Fest wieder der Alltag begann.
Er besuchte das Archiv am frühen Vormittag. Er brachte keine Blumen für unsere Damen mit. Er rauchte, was wir nicht gerne sahen, eine seiner Kubanischen. Er sagte: »Komme aus übergeordnetem Interesse. Unbedingt müssen ein paar Ungereimtheiten ausgeräumt werden. Betrifft alles unseren gemeinsamen Freund. Über Lyon und die Folgen sprachen wir kürzlich schon, als die Dienste zwecks Familienzusammenführung behilflich werden konnten. Aber betreffs Internierung auf der in der Girondemündung liegenden Insel Oléron und Entlassung des Kriegsberichterstatters und preußischen Untertans gibt es ne Menge Klärungsbedarf. War nicht die katholische oder jüdische Partei, auch nicht, trotz höchster Intervention, die Regierungspartei, die den Betroffenen freigekämpft hat, nein, das waren wir. Geschah natürlich in Zusammenarbeit mit den französischen Organen. Krieg trennt ja nicht nur, Krieg wertet bestehende Verbindungen auf, sofern über sie Spezialwissen zu erwarten ist. Haben wir wiederholt erlebt. Zum Beispiel nach dem letzten Frankreichfeldzug. Selten haben die Dienste reibungsloser zusammengearbeitet, besonders in Lyon. Will damit nicht die vormaligen Bemühungen der katholischen, der Jüdischen und der Regierungspartei in Abrede stellen, aber Ihre Archivgewißheiten sollten endlich ergänzt werden: Entscheidend sind in allen Fällen wir gewesen. Wir wurden tätig. Wir werden auch zukünftig … Bitte darum, dieses Fakt zu Protokoll zu nehmen. Ist ne Kleinigkeit nur, dient aber der Wahrheitsfindung.« Mit einem Lächeln sprach er auf uns ein, das bei härtesten Sätzen bestehenblieb, versteinert, wie sein versteinertes Spezialwissen. »Weiß schon«, sagte er, »die Herren wollen nicht glauben. Das Bild des Unsterblichen verträgt keinen Fliegenschiß. Man schätzt unsere Beiträge nicht. Man wartet ungeduldig das Ende meines Besuches ab. Dabei hänge ich am Archiv. Säße lieber hier als woanders. Habe das ewige Rumstehen satt. Ne Schinderei ist das: Außendienst bei jedem Wetter …« Noch nie hatten wir Hoftaller so sinnentleert und seines Dienstes überdrüssig erlebt. Plötzlich jammerte er über alles: den Undank, die ständige Mißachtung, den schlechten Ruf, die vergebliche Mühe. Seine eigene, nur bescheidene Rolle und das ihm vorgeschriebene Randdasein waren ihm nichtsnutz geworden. Überhaupt zweifelte er am Sinn der auf Staatssicherheit
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