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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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spezialisierten Dienste: »Ist ne Fiktion, das Ganze!« Und dann beklagte er die Launen seines Objekts, Fontys plötzliche Aufbrüche und planlos weitläufigen Spaziergänge. Er bat uns, ihm zu helfen und gleich ihm – Fonty nicht aus dem Auge zu lassen: »Denken Sie an Domrémy, als er leichtfertig die preußischen Truppen verließ, um kurz nach der Jungfrau von Orléans Ausschau zu halten. Oder denken Sie an Lyon, als er sich auf Ruderpartien gefährdete. Oder kürzlich noch, sein jüngster Versuch, abzutauchen und sich irgendwo auf schottischer Heide zu verlieren. Glauben Sie mir: Unser Freund ist ne Nummer für sich …«
    Vorerst litt Hoftallers Außendienst nicht unter Schlechtwetter: Herbstlich mild blieb es nach dem dritten Oktober; und Fontys Spaziergänge hielten sich in Grenzen, weil er wieder diensttauglich war. Sogleich nach der Verkündung der Einheit sah er sich von banalen Alltäglichkeiten gefordert. Zwar begann man, den Arbeiter- und Bauern-Staat nun offiziell Beitrittsgebiet zu nennen, doch im ehemaligen Haus der Ministerien blieb die Arbeitskraft Theo Wuttkes in allen Räumen und Korridoren des vielgeschossigen Gebäudes gefragt, weil nunmehr das Wort »abwickeln« in Gebrauch kam. Von Zimmer zu Zimmer und rauf und runter im Paternoster mußten die kopflos gewordenen Ministerien abgewickelt werden. Das Wort begann Sinn zu machen. Rastlos tätig sah man den Aktenboten, denn abwickeln bedeutete räumen, und räumen hieß Platz schaffen für eine neue Behörde. Laut Einheitsvertrag trat das Treuhandgesetz in Kraft, und mit ihm wurde ein Wort aufgewertet, das schon einmal von umfassender Bedeutung gewesen war: solange das Dritte Reich dauerte und überall Besitz und Vermögen der Juden in Deutschland unter Treuhand gestellt wurde. Schon seit Monaten gab es diese Behörde mit beengtem Standort am Alexanderplatz. Auf Verlangen des Runden Tisches sollte sie das Volkseigentum schützen. Doch nun und seitdem des Volkes Eigentum zur Chimäre erklärt worden war – sah sich die Treuhand vor neue Aufgaben gestellt.
    Abwickeln sollte sie und dabei über sich hinauswachsen. Sie forderte Platz für über dreitausend Arbeitskräfte, denen das Ziel gesetzt war, in möglichst kurzer Zeit alles, was unter entwertetem Begriff nunmehr herrenlos war, zu privatisieren; ein Wort, das sich im Sprachgebrauch der Treuhand aus der Tätigkeit des Abwickelns ergab. Das gesamte Beitrittsgebiet sollte als Anschlußmasse erfaßt werden. Zwischen der Oder und der Elbe, der Ostsee und dem Erzgebirge war Altlast aufzulisten. Eine Aufgabe für Giganten, zumal dieses gesetzliche Muß allerorts und besonders dort, wo Industriebetriebe noch immer als volkseigen firmierten, radikale Schrumpfung vorschrieb und einer Leitstelle bedurfte, von der aus der bis vor kurzem herrschende Zentralismus abzuwickeln war, einer Treuhand, die zugriff. Wie selbstverständlich bot sich das ehemalige Reichsluftfahrtministerium und vormalige Haus der Ministerien als Standort an. Mit seinen über zweitausend Diensträumen bekam der Koloß den Zuschlag. Doch bevor die Treuhandanstalt, kurz Treuhand genannt, einziehen und sich breitmachen konnte, mußte geräumt, das hieß wiederum abgewickelt werden. Fonty half dabei, und Hoftaller war ihm, wie vorher bei alltäglichen Dienstleistungen, nun beim Abwickeln behilflich. Da die Treuhand einen Teil der vorgefundenen Arbeitskräfte, das Stammpersonal, übernahm, war es nicht verwunderlich, daß der Aktenbote dazugehörte; trotz oder wegen seines hohen Alters wurde er von den neuen Dienstherren gebeten, fortan beratend tätig zu sein. Es hieß: Da er mit dem Gebäude Ecke Leipziger Straße über jeden geschichtlichen Machtwechsel hinweg vertraut sei, verkörpere er das Bleibende; er gehöre dazu, aus ihm spreche Tradition und Geschichte, ohne ihn laufe man Gefahr, wie ohne Hintergrund zu sein.
    Diese besondere Position wurde Fonty von höchster Stelle angeboten, vom Chef der neuen Personalabteilung schriftlich bestätigt und von Hoftaller, der gleichfalls in mittlerer Position und zuständig für den Außendienst übernommen wurde, schmackhaft gemacht. Dessen Talent für gleitende Übergänge hatte sich oft genug bewährt, weshalb seine Devise »Ohne uns kein Systemwechsel« zu den bleibenden Wahrheiten gehörte. Und als Hoftaller den einstigen Aktenboten zur Annahme des neuen Arbeitsplatzes überredete, sagte er während einer immer wieder die Wendepunkte überwindenden Paternosterfahrt: »Kann man nicht nein

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