Ein weites Feld
sei gefragt. Der Chef – das werde immer wieder betont -wolle doch nur das Beste. »Mensch, Wuttke, das haben Sie richtig erkannt.« Wenn wir an Fontys Tagundnachtschatten während der letzten Wochen ein zunehmend graustichiges Erblassen beobachtet hatten, gewann er nun Statur zurück. An einem normalen Arbeitstag sagte er: »Können uns mal wieder nen kleinen Ausflug leisten. Stehen hier nur den Handwerkern im Weg. Kann noch Wochen, Monate dauern, bis die ersten Räume bezugsfertig sind und es losgeht mit dem Umzug vom Alex. Versteht sich: mit aufgestocktem Personal. Über dreitausend Planstellen sind genehmigt. Hatte heute sechs Einstellungsgespräche. Vor allem ist Sachkenntnis gefragt. Es fehlt an Leuten, die den Filz von innen her kennen. Habe schon welche bei der Hand. Bin sicher: wird ne gigantische Sache.« Als sie gingen, rief er aus gehörigem Abstand zum kolossalen Portal: »Allzeit bereit!« Dann wurde Hoftaller leiser: »So ist es, mein lieber Wuttke. Unsere Kampfparole von einst gilt immer noch, selbst wenn sich die großen Aufgaben heute ganz anders stellen. Aus erstarrtem Volkseigentum soll beweglicher Privatbesitz werden. Wird es! Wird es! Aber nicht ohne uns, Fonty! Wir mischen da mit.«
Sie fuhren in die Lausitz. Vormittags fuhren sie vom Kollwitzplatz ab. Beim Volltanken zahlte Fonty, der neuerdings bei Kasse war, die Hälfte. Emmi, der Form halber gefragt, hatte abgewinkt: »Mit nein Trabi, nie wieder!« Und ohne uns fuhren sie, doch waren wir im Prinzip dabei. Mit dem Trabant in die sandige Lausitz. Am Ende der zweiten Novemberwoche fand dieser Ausflug statt. Emmi hatte ihre Absage bekräftigt: »Und in diese lausige Gegend schon gar nich.« Da die Hintersitze frei blieben, beschränkte sich unser prinzipielles Mitwissen aufs Hörensagen; allenfalls durften wir einigen bei trüber Sicht vorstellbaren Visionen Raum geben. Nachdem Hoftaller einen Ausflug nach Neuruppin, gelegen am gleichnamigen See, als verfrüht abgesagt und aufs kommende Frühjahr verschoben hatte, wollte er seinem »lieben Wuttke« mit einer Fahrt in die wendische Lausitz gefällig werden. Sie fuhren am g. November über die Autobahn Richtung Dresden bis zur Abfahrt Ruhland. Wir kennen diese der einstigen Arbeiter-und Bauern-Macht so förderungswürdige Region und sind sogar halbwegs in wendisch-sorbischer Literatur beschlagen. Von der zu Führers Zeiten bahnbrechenden Reichsautobahn, einer mittlerweile zum Flickwerk verkommenen Plattenbaustrecke, bogen sie ab und fuhren weiter in Richtung Senftenberg, bis sie in jenen Teil der Niederlausitz kamen, der noch lange vom Tagebau weitläufiger Braunkohlelager gezeichnet sein wird, uns aber schon während verjährter Studentenzeit als ständige Androhung vertraut wurde: »Wer ideologisch nicht spurt. den schicken wir in die Produktion. Da kann man von der Arbeiterklasse lernen, was malochen heißt.« So wurde mir Mitte der sechziger Jahre, als wieder mal schärferer Wind wehte, ein Jahr Braunkohle zur schweißtreibenden Erfahrung. Sie fuhren über Nebenstraßen bis dicht an die Abbruchkanten heran. Überall fanden sie die Erdkruste aufgebrochen, und an den Bruchrändern der Gruben sahen sie Reste verlassener, schon aufgegebener Dörfer, deren übrige Häuser auf Abbruch standen. An diesem g. November lag unter verhängtem Himmel die Sicht bis zum Horizont frei. Sie sahen auf eine in Stufen vertieft gebreitete Landschaft, sahen kegelig aufgeschütteten Abraum, ausgebleichte Hügelketten um Grundwasserseen und von Kohleresten marmorierte Spitzkegel. Plane Flächen sahen sie zuunterst und in die Tiefe versenkte Mittelgebirge, sonst nichts, keinen Baum, keinen Strauch, keinen Vogel darüber, doch hockten auf den Grubenrändern und vor kohleträchtigen Steilhängen monströse Schaufelbagger aus rostanfälligem Material. Deren Geräusch wäre Beweis für Arbeit und Menschenwerk gewesen. Wir könnten mit Zahlen nachhelfen: Aushub in Kubikmetern, Fördermengen, erfülltes und übererfülltes Soll, mehrfach ausgezeichnete Brigaden, Kollektive, die Sonderschichten für den Frieden, den Fortschritt, die gute Sache einlegten. Wir könnten, doch hätte das nicht Fontys Wünschen entsprochen. Schon auf der Autobahn hatte er zu quengeln begonnen, um dann, angesichts der in der Ferne gereihten Schornsteine und Kühltürme des Kombinats »Schwarze Pumpe«, das ihm von Kulturbundvorträgen in Hoyerswerda bekannt war, mit Wortkaskaden Sperren zu errichten. Halt, Stopp und Umkehr forderte er. »Will
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