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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Scharnhorst! ›Vom Landsturm zur Volksarmee‹ hieß einer meiner Vorträge, gehalten in Jüterbog. Aber Ihre Leute, was man später ›die führenden Genossen‹ nannte, waren dagegen. Von Anfang an, noch vor dem Sturm. All diese Hofschranzen. Kaum hatte das Volk sich und zugleich den zaudernden König befreit, standen schon die Karlsbader Beschlüsse fest, auf daß Ihresgleichen von den Demagogenverfolgungen bis hin zum jüngsten Spitzelsystem einen Überwachungsstaat errichten, netzförmig erweitern, verdichten, perfektionieren konnte. Und das bis heute. Gestern noch hieß es: Wir, nur wir sind das Volk! Doch gegenwärtig ist der Sturm wieder mal abgeflaut. Das nimmt kein Ende. ›Der neue Polizeistaat …‹ Habe darüber bereits, wenn auch unter Chiffre, in der ›Dresdner Zeitung‹ geschrieben, anno neunundvierzig. Sie sind verstummt, Tallhover, aber Ihr Schweigen sagt genug …« Fonty liebte solch zeitraffende Verkürzungen. Und als sie den Trabi zwischen den Resten der historischen Innenstadt geparkt und auf der Uferpromenade des Grenzflusses einen für weitschweifige Betrachtungen günstigen Aussichtspunkt gefunden hatten, sagte er: »Ist bedauerlich, aber Tatsache: Hier hat Deutschland aufzuhören, Einheit hin – Einheit her. Stimmt, war immer schon unterschwellig wendisch versippt, ist aber trotzdem schade, weil einige Romane nun ihr Hinterland verloren haben. ›Quitt‹ spielt zum besseren Teil im Schlesischen. Für das Kessin meiner Effi gibt es kein Swinemünde mehr. Und nach dem verpfuschten Anschlag auf die Frankfurter Oderbrücke saß der junge Graf Vitzewitz in der Festung Küstrin ein. Dort hat man Katte einen Kopf kürzer … Alles weg oder heißt nun polnisch … Von Westpreußen, wo es Mathilde Möhrings verbummelter Student immerhin zum Bürgermeister gebracht hat, ganz zu schweigen. Nichts ist geblieben. Und von der alten Holzbrücke gibt’s, wie Sie sehen, nicht mal die Andeutung einer Spiegelung …« Auch dazu schwieg Hoftaller oder stand neben Fonty wie zum Schweigen kommandiert. Wenn der eine mit langem Zeigefinger nach Norden hoch, auf Küstrin und, weiter weg, Swinemünde, nach Südosten in Richtung Schlesien und Riesengebirge, dann, mit absolut östlichem Fingerzeig, auf das verlorene Weichselland wies, stand der andere mit verschränkten Armen: ein verfinsterter Napoleon, dem der Rückzug aus Rußlands Weite noch immer die Sprache verschlug. Rechter Hand überbrückte die Eisenbahnbrücke den Grenzfluß. Linker Hand war die Nachkriegsbrücke für Auto- und Fußgängerverkehr freigegeben. Fonty hatte, während er mit den Gesten eines Clausewitz strategische Lagen entwarf, anfangs das nahe dem Ostufer der Oder liegende Schlachtfeld von Kunersdorf -»Friedrichs Debakel« –, dann die prekäre Situation der Großen Armee nach dem Brand Moskaus und der Niederlage an der Beresina im Auge – »Da drüben stauten sich die erbärmlichen Reste französischer Macht, bedrängt von Kosaken« -und sah schließlich den Frontverlauf vom März 45, als sich die Rote Armee auf dem östlichen Ufer sprungbereit und in Sichtweite sammelte. »Wer Frankfurt an der Oder hat, hat Berlin!« rief er, um nochmals die Endgültigkeit der Grenze mit Polen zu besiegeln: »Tatsache! Da rüttelt keiner mehr dran!«
Jetzt erst, nachdem alle Schlachten geschlagen waren, lockerte Hoftaller die verschränkten Arme und sagte, mehr beiläufig als zum Widerspruch aufgelegt:
»Ach was, Wuttke. Keine Grenze hält ewig. Vorgestern noch war alles dicht: Mauer, Friedenswall, Eiserner Vorhang, Minen, Stacheldraht, Todesstreifen … Und heute? Alles fließt. Nichts ist mehr sicher. Schon brauchen wir weder Visum noch Paß, um rüberzukommen, friedlich natürlich. Passen Sie auf: Sogar die Dienste werden noch gesamteuropäisch. Muß man locker sehen, das Ganze. Grenzen halten nur auf.«
Dann wies auch er mit allerdings kurzem Finger in Richtung Osten: »Trotzdem, muß überschaubar bleiben. Diese Weite müssen wir abschirmen, das heißt sichern, bevor der große Ansturm kommt. Sehe Polen als ne Art Grenzmark oder, besser, als vorgeschobenes Bollwerk, denn was von da hinten auf uns zukommt, Wuttke, ist ne echte Herausforderung. Der Osten ist weit!«
Fonty stimmte einerseits zu -»Dem Nationalen haftet immer etwas Enges an« –, doch kaum begann er sich mit dem grenzenlos offenen Zustand zu befreunden, kamen die alten Besorgnisse hoch: »In Deetz schlug man 1806 einen Franzosen tot, wie man einen Pfahl in die Erde schlägt

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