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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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da nicht hin. Hasse diese Gegend, immer schon. Wie Emilie, so ich: Das ist nicht meine Gegend. Letschin, das Oderbruch, ja, das Ländchen Friesack, was alles um die Ruppiner Seenplatte liegt, gerne, Rheinsberg immer wieder, von mir aus nach Mittenwalde, wo Paul Gerhardt Probst war, und wenn schon ins SorbischWendische, dann nach Lübbenau, in den Spreewald, und weiter auf Kähnen in diese verwunschen liebliche, mit Gurken und Ammen gesegnete Gegend, aber nicht hierhin. Will ich nicht sehen, wiedersehn, Spremberg womöglich und immer weiter bis nach Bitterfeld rüber und ins Sächsische. Nein! Trotz Kulturbund und allerbester Erinnerungen, nicht dahin. Gebe ja gerne zu: Publikum war vorzüglich, volle Säle, interessante Aussprachen und nicht einmal ideologisch vernagelt. Zum Beispiel über Frauengestalten wie Melanie van der Straaten, Ebba von Rosenberg und Mathilde Möhring, dazu noch Corinna Schmidt und die Witwe Pittelkow, die ja alle was Emanzipiertes an sich haben. Fand Anklang mein Vortrag. Lebhafte Debatte danach. Zitierte aus Bebels ›Die Frau und der Sozialismus‹, natürlich auch irgendwas von Clara Zetkin. Kam gut an, sogar bei den führenden Genossen. Also nichts gegen den Kulturbund in Hoyerswerda, aber alles gegen die Gegend hier. Wie umgekrempelt und ausgelutscht. Aufgehäufelte Häßlichkeit. Nichts, worauf das Auge ruhen möchte. Nur Abgrund und Mondgebirge. Wäre etwas für Zola gewesen: ›Germinal‹ über Tage, doch mir war die Arbeitswelt, so notwendig sie unserer Existenz ist, schon immer ein Greuel. Was soll das, Hoftaller? Wollen Sie mir verschwundene Dörfer samt Kirchen aufzählen, mich mit Produktionszahlen und henneckehaften Leistungen erschlagen? Soll ich etwa beten lernen: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen genau, was sie tun? Oder was soll ich hier? Da steckt doch Absicht hinter. Ein Tallhover fährt nicht einfach ins Blaue und ein Hoftaller, wie ich ihn kenne, schon gar nicht …« Kein Einwand konnte den Trabi stoppen oder in reizvolle, trotz aller novemberlichen Trübnis einladende Gegend locken. Auch uns hätte es nicht in die Braunkohle gezogen; das Archiv war auf Fontys Seite. Aber wen kümmerte das? Hoftaller klammerte sich ans Lenkrad und hielt an seinem Plan fest. Anzunehmen ist, daß er auf den Feiertag aller Feiertage, auf dieses tragische, düstere, blutige, so üble wie verfluchte Datum fixiert war, dem der für Deutschland zuständige Kalendermacher vor Jahresfrist eine weitere, diesmal Freiheit verheißende Bedeutung draufgepackt hatte. Den Chauffeur schien diese Fülle historischer Ereignisse anzutreiben. Auf ausgefahrenen Nebenstraßen, denen sein sandgelber Trabant wie angepaßt war, fand er inmitten Ödnis immer neue Zugänge zu Grubenrändern, die hier sauber abgeschrappt, dort als wilde Müllkippe benutzt worden waren. Sie stiegen aus. Er zwang Fonty, auszusteigen und gleich ihm in den Abgrund wie in ein offenbartes Verhängnis zu starren. Er führte ihn vor das schwarze Geschlinge ausrangierter Förderbänder, die seitlich einer Grubeneinfahrt zuhauf lagen und die Fonty später, in einem Brief an Martha Grundmann, »erbrochenes Drachengekröse« nannte. Und sogar Hoftaller glaubte mehr als nur ermüdetes Industriematerial zu sehen: Mit dickem Zeigefinger wies er in die Ferne und der Reihe nach auf Schaufelbagger und Abraumumwälzer, die gleich Insekten auf den Grubenrändern erstarrt waren oder auf tiefster Abraumsohle knieten. Zwar leblos anzusehen, waren sie dennoch in Betrieb, förderten von hier nach dort, beuteten aus, bedienten intakte Förderbänder, waren unersättlich; und mit dem Wind, der kleinkörnigen Sand austrug, kam als Beweis ihr Geräusch.
    Welch ein Ausblick! Von Pritzen, dessen letzte Häuser leergeweidet am Grubenrand standen und auf Abbruch warteten, konnten beide über die Grube und deren von unterster Sohle aufgeschüttete Kegel hinweg bis nach Altdöbern sehen, ein Städtchen mit Kirche und Schloß. »Da wollen wir hin«, rief Hoftaller, »jetzt gleich, und von da aus in Richtung Pritzen gucken …«
    Einige von uns erinnern sich an den beschaulichen Ort. Alles schien dort stehengeblieben, eingeschlafen zu sein. Das war vor der Absenkung des Grundwasserspiegels. Im Schloßpark standen die alten Bäume, unter ihnen exotische, wie auf ewig; nur die Jahreszeit brachte Wechsel. Ausreichend viel Arbeit: Sägewerke, eine Kornbrennerei in Betrieb. Altdöbern lag zwischen Feldern und Wäldern. Jetzt gab es keine Holzverarbeitung mehr. Den

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