Ein weites Feld
jeweiligen Bluttaten nur wenig Raum eingenommen, doch immer hat die allerorts, selbst im fernen Amerika anwesende, oft nur leis tickende Schuld den Verlauf der Erzählung bestimmt. (Was ist Handlung? Oft ist es nur das leichte Verrücken von Stühlen, mehr nicht.) Und nun soll ich historisch entscheidende, was heißen soll, dicke Daten kommentieren. Lieber möchte ich Fälle aus jüngster Zeit wie den des Pfarrers Brüsewitz, der sich aus Protest selbst verbrannte, oder die Tragödie der Familie Wollenberger oder das literaturträchtig lucide Doppelleben des Ibrahim Böhme in Abschweifungen ausbreiten und hier des Pfarrers Konflikt mit seiner Gemeinde, dort den zwischen dem staatlichen Sicherheitsinteresse und der konspirierenden Ehefrau gespreizten Spagat des liebevollen Gatten und pünktlichen Informanten zu Papier bringen; und im Fall Ibrahim Böhme wäre nachzuweisen, wie jemand, indem er die Literatur von Dostojewskis Tiefen bis zur Mittellage der Brechtschen List wortwörtlich auslebt, als Heiliger gefeiert und zugleich zum Verräter an der ureigensten Sache wird; eine Versuchung, die mir übrigens nicht fremd ist. Überhaupt geschieht viel Durchlebtes abermals, weshalb mich der Fall meines Freundes in Jena – wir sprachen, als Du noch bei uns warst, über Professor Freundlich – stärker als jede politische Großinszenierung berührt, denn falls er seine Töchter, die dezidiert Rosa und Clara heißen, an Israel verlieren sollte, was noch nicht ausgemacht ist, wird es furchtbar einsam um ihn bestellt sein. (Wenn es doch endlich seinem Fußballclub gelänge, ein Auswärtsspiel zu gewinnen und ihn aufzumuntern.)
So viele Seelenkonflikte! Ich aber habe dem drögen Verlauf der Historie zu folgen und das Innenleben eines scheußlichen Gebäudes nach außen zu kehren; Offenlegung nennt man das. Ach, wäre mir doch meine zartbittre Person zur Seite! Wir wüßten bestimmt, auf welche Reise wir uns plaudernd begeben könnten. Doch wie ich lese, schließt Dein ›immer schwieriger werdendes Verhältnis‹ einen mich heilsam treffenden Blitzbesuch über Weihnachten aus …«
Ähnlich beredt hat er uns im Archiv einen Teil seiner Sorgen und seine Lustlosigkeit unterbreitet. Mir vertraute er sogar an, daß er sich leergeschrieben habe. »Neinnein«, rief er, »selbst wenn es Ihnen gefiele, mich in meinem demnächst bezugsfertigen Dienstzimmer aus bloßer Evalaune und als mustergültig frisierte Muse zu besuchen, müßte ich passen. Mein Wörtersack ist leer. Längeres als die dreieinhalb Seiten zugunsten des Paternosters ist mir derzeit nicht möglich. Kein Funke will springen. Und wie Sie sehen, gelingt es mir nicht einmal, den notorischen Schwerenöter zu spielen. Habe übrigens damit schon immer Mühe gehabt.« Und doch muß Fonty – eher ohne als mit Muse – einen Anfang gefunden haben, denn seinem Sohn Friedel schrieb er: »Seit gestern wird der Bleistift nicht kalt. Bleibt dennoch eine schwere Geburt. Und gewiß kann mein allerneuestes Gekritzel nicht mit Deinen verlegerischen Produkten konkurrieren, denen die Gnade der Herrnhuter und das Missionswesen als Geschäftsgrundlage sicher sind. Bei mir fällt wenig Erbauliches an, doch kommt viel Missetat aufs Papier. Militär-und Parteikarrieren übers Knie gebrochen, vom Langstreckenbomber zur Kurzarbeit, heldische Verräter und bangbüchsige Helden … Man könnte mit solch fortgesetzten Geschichten die einst beliebten Neuruppiner Bilderbögen aufleben lassen; aber selbst der kolorierteste Moritatensegen wäre nichts für Euer Verlagsprogramm; wie Du weißt, mein Sohn, tauge ich nicht zum Traktat …« Immerhin, er begann zu schreiben. Mag sein, daß Hoftaller, wenn nicht mit Hinweisen auf das versprochene Dienstzimmer, dann mit furchtbarer Bestimmtheit den Knoten gelöst und den letzten Anstoß zur Erledigung der Auftragsarbeit gegeben hat. Als der freie Mitarbeiter Wuttke die Absicht äußerte, er habe vor, eingangs den Fall Wollenberger zu skizzieren und wie beiläufig eine Nebenhandlung in »Unwiederbringlich« zu erneuern, soll es zur Konfrontation gekommen sein. Leicht vorstellbar ist Fontys Begründung: »Wenn die Kapitänswitwe Hansen nebst Tochter Brigitte, dieser verführerisch lasziven Rubensschönheit, mit dem dänischen Geheimdienst verquickt gewesen ist, was selbst dem armen Holk auffiel, denn er sagt zu Pentz: ›Und das macht mir einigermaßen Herzbeklemmungen. Ist da wirklich was von Beziehungen zwischen einem Sicherheitsassessor und der Tochter
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