Ein weites Feld
kürzlich (und endlich) wurde mir ein Dienstzimmer eingeräumt, in dem ich nun Dir briefverborgen gestehe, mit welch ziehendem, dem Zahnweh nicht unähnlichen Schmerz Du mir fehlst. Um auf die Kriegsgefahr zu kommen, die man gewiß als Randnote der Geschichte abtun kann, die sich aber, wie einst der Krimkrieg, auswachsen könnte: Leider lief während der Feiertage, knapp neben das Christbäumchen gestellt, ein überwältigendes Fernsehprogramm, in dem Kinderchöre und Berichte aus der arabischen Wüste miteinander wetteiferten, so daß bei mir die Sehnsucht nach Einsamkeit und der Wunsch, irgendwo meinen Kohl zu bauen oder ein paar Pflaumen am Spalier zu züchten, immer größer wurden. Was aber nun Monsieur Hoftaller betrifft, den Du so charmant wie unerbittlich bei konsequenter Weglassung des höfischen großen H zum Monsieur Offtaler umfrisiert hast, sollten wir bedenken, daß unser spätes Rendezvous seiner Vermittlung zu verdanken ist. Ohne ihn gäbe es für diesen Brief weder Anlaß noch Adresse.
Gewiß, Vorsicht ist immer geboten. Hoftaller wie Tallhover waren und sind schlimme Finger. (Wie in ›L’Adultera‹ der Polizeirat Reiff, so spukt in ›Unwiederbringlich‹ geheimniskrämerisch ein Sicherheitsassessor im Hintergrund.) Doch unterm Strich stimmt auch: Ein bißchen Geheimnis muß bleiben. Nicht alles darf ans Licht.
Übrigens ist Hoftaller besser als Tallhover. Und hinzu kommt, daß mir des einen wie des anderen gleich welchen Staat sichernde Aufsicht seit Menschengedenken vertraut ist. Beiden bin ich auf sozusagen zwiegenähte Weise verhaftet. Ich kenne ihre Winkelzüge. Ihr gespeichertes Wissen, das in der Regel nur Halbwissen ist, drückt mich als gewohnte Last, die sich freilich im Verlauf kultureller Turnübungen zugunsten der Arbeiter- und Bauern-Macht verdoppelt hat. Meine Vortragsreisen kreuzten oft genug seine Reiseroute. So hinderlich er dem freien Redefluß gewesen ist, so regelmäßig hat er bei drohender Gefahr das Sprungtuch gespannt: etwa nach dem Sturz der Manteuffel-Regierung; etwa nach dem mißglückten Stauffenberg-Attentat; etwa nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni, dem ich leichtfertigerweise Klassenbewußtsein zugesprochen hatte, und so nach der überfallartigen Einvernahme der Tschechoslowakei, als ich mich – Du warst, mein Kind, kaum ein Jahr alt anläßlich einer Kulturbundtagung in Bad Saarow (hübsch am Scharmützelsee gelegen) beinahe um Kopf und Kragen geredet hatte, indem ich zu Protokoll gab: ›Seit Friedrichs Zeiten ist der blitzschnelle Einmarsch in Böhmen eine preußische Spezialität, die dank Bismarck und Moltke verfeinert, dann von einem einfachen Gefreiten des Ersten Weltkriegs, kurz unser Führer genannt, auf totale Weise nachvollzogen wurde; und neuerdings hat der Genosse Ulbricht dieser altpreußischen Tradition alle Ehre gemacht …‹ Nunja, wie überall, so fehlte auch in Bad Saarow der Sinn für Ironie. Ich wurde gemaßregelt. Und hätte damals nicht der Dir so anrüchige Monsieur Offtaler ein Wörtchen für Deinen Großvater eingelegt, wäre mir das Zuchthaus Bautzen hierzulande ›Gelbes Elend‹ genannt – für ein paar Jahre sicher gewesen. All das nur, weil ich zu weiträumigen Zusammenfassungen neige. Vom Krimkrieg bis heute, und so kraus es verfilzt liegt, das Historische breitet sich dennoch übersichtlich, weshalb mir ein Krieg in der Golfregion, sollte er kommen, keine Überraschung bereiten wird. Doch davon abgesehen entspricht meinem Vorwissen dankenswerterweise eine Aufgabe, der ich mich derzeit stelle. Wie Du weißt (und aus französischer Sicht womöglich bewunderst), haben die Deutschen den Hang und sogar das Talent zum Gesamtkunstwerk. Entsprechend genial (und als Gegenstück zu Bayreuth) ist hier, im Verlauf der Einheit, die Treuhandanstalt kreiert worden, ein den Göttern und Halbgöttern und ihrem Ränkespiel vorbildliches Walhalla. Und für dieses allumfassende Gebilde, das nunmehr Götterdämmerung en suite im Programm hat, soll ich als freier Mitarbeiter eine informierende, sprich werbende Schrift verfassen. Es gilt, dem kolossalen Gebäude, in das Du, während leider nur kurzem Besuch, hineinriechen durftest, in jeder historischen Phase gerecht zu werden. Schon sichte ich Material. Schon hat Dein Großvater, der sich leergemolken wähnte, trocknes Pulver auf der Pfanne. Schon lote ich – und sei es mit Hilfe memorierender Paternosterfahrten – jegliche Tiefe aus. Das mir im siebten Stock eingeräumte Zimmer mit
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