Ein weites Feld
oder gar zwischen dem Polizeichef selbst und der Mutter?‹, dann könnte im Fall der Familie Wollenberger, falls die Normannenstraße eine aparte Agentin ins Spiel gebracht hat …« Darauf soll Hoftaller gesagt haben: »Hören Sie, Wuttke, zwar ist der Roman ›Unwiederbringlich‹, was die dänischen Sicherheitsbehörden betrifft, für ne Menge Spekulationen offen, doch irgendwo hört der Spaß auf, auch für einen gewissen Fonty. Wir wollen hier nicht mit dem Feuer spielen. Den Fall Wollenberger gibt es in beliebig vielen Variationen. Zum Beispiel liegt Material vor, das zum geeigneten Zeitpunkt Ihre Familie belasten könnte, denn wie ein gewisser Leutnant und Starfighterpilot uns noch als Hauptmann mit Informationen bedient hat, so gibt es in Bonn einen Ministerialrat, dessen Wissen wir jahrelang abschöpfen konnten, ohne daß die Eltern dieser Herren Söhne die leiseste Ahnung hatten. Aber das kann sich ändern, Fonty. Sie wissen: Wir können auch anders!« So deutlich angestoßen, begann der freie Mitarbeiter Theo Wuttke, kaum daß er wenige Tage vor Weihnachten ein renoviertes Dienstzimmer mit Schreibtisch bezogen hatte, seinen Auftrag ernst zu nehmen.
Wie versprochen: im siebten Stock. Die Nummer des Dienstraums gehörte zu den letzten der zweitausend numerierten Räume und konnte als bedeutsames Geburtsjahr gelesen werden, wenngleich Fonty uns gegenüber gerne das Jahr 1819 mit der Königin von England und Kaiserin von Indien, Queen Victoria, in Verbindung gebracht hat: »Ein königliches Jahr. Mit ihm begann das Viktorianische Zeitalter, von dem allerdings in Neuruppin, wo kurz vor Silvester auch jemand mit Namen zur Welt gekommen ist, wenig bemerkt wurde. Dort ging es, wie in allen Garnisonstädten, ausschließlich preußisch zu.« Bald war der Dienstraum 1819 mit Hoftallers Hilfe, der für Bücherborde und eine Schreibtischlampe im Stil der dreißiger Jahre sorgte, notdürftig eingerichtet. Das einzige Fenster gab den Blick in den nördlichen Innenhof frei. Rechts vom Tisch, der im Fensterlicht stand, hing an weißgetünchter Mauer eine breitflächige Pinnwand, auf der mit Reißzwecken erstes Material festgehalten wurde, verkleinerte Kopien der Sagebielschen Baupläne und Photos: das Gewehr präsentierende Soldaten im Ehrenhof und – gleich daneben – streikende Arbeiter, die am 17. Juni 53, gleichfalls im Ehrenhof, den Minister Selbmann niedergeschrien haben sollen.
Dazu, gleich Steckbriefen, die Abbildungen von Widerstandskämpfern der »Roten Kapelle«, die kurze Zeit lang im Reichsluftfahrtministerium tätig gewesen waren. Und dann noch Photographien benachbarter, zum Regierungsviertel gehörender Gebäude, die alle bei Kriegsende zertrümmert wurden: die neue und alte Reichskanzlei, das Hotel Kaiserhof, das Prinz-AlbrechtPalais, bevor es als Gestapozentrale in Verruf geriet. Wenig später kam ein Photo dazu, das Hoftaller aus Tallhover-Zeiten aufgetrieben hatte. Es zeigte den etwa zweiundzwanzig Jahre alten Gefreiten der Luftwaffe Theo Wuttke unter schräg sitzendem Käppi mit Kuriertasche. Auf dem kleinformatigen, an den Rändern bestoßenen Bildchen steht er vor jenem schmiedeeisernen Zaun, der einst den Ehrenhof zur Wilhelmstraße abgegrenzt hatte und später zur Otto-Grotewohl-Straße seinen Zweck erfüllte. Dahinter sieht man -flach wie eine Kulisse – den mit Muschelkalk verkleideten Koloß und das kolossale Portal. Genau betrachtet, sah Fonty als junger Wuttke ziemlich unbedeutend aus. Das Bücherregal blieb vorerst dürftig bestückt: einige statistische Jahrbücher, zwei Bildbände, in denen architektonische Schaustücke aus geschichtlichen Bauphasen versammelt waren, ein Band über Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich, etwas über Zweck und Organisation der Luftwaffe, die von einem englischen Historiker verfaßte Biographie des einstigen Reichsmarschalls und als Taschenbuch eine Ulbricht-Biographie. In einem sonst leeren Regal standen zwei Bände der teuren Hanser-Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe des Unsterblichen, die Fonty, dem in der Kollwitzstraße nur die unvollständige AufbauAusgabe und zusätzlich die Nymphenburger Taschenbücher zur Hand waren, kürzlich gekauft hatte, glaubte er doch, daß er sich nun, als freier Mitarbeiter der Treuhandanstalt, nach und nach die Dünndruckbände leisten durfte. Bald sollten zwei weitere dazukommen: versammelte Schriften zur deutschen Geschichte, was alles die Kriege von 1864 und 1866 und der nachfolgende Krieg gegen Frankreich
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