Ein weites Feld
zu ersticken: Für Milliardenbeträge bürgte die Treuhandanstalt. Ihr Schatten fiel auf vieltausend einst volkseigene Betriebe, Liegenschaften, Parteibesitztümer, reformbelastetes Junkerland in unermeßlicher Hektargröße, auf siebentausend geplante Privatisierungen und zweieinhalb Millionen gefährdete Arbeitsplätze. Selbst die knappe Formel des Treuhandchefs, die der in Auftrag gegebenen Denkschrift als Motto dienen sollte – »Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stillegen« –, wollte, sooft Fonty diese Beschwörung wiederholte, nichts Lebendiges auf die Beine stellen; alles, sogar die Hoffnung ersoff in Zahlen.
»Wirkt ledern oder atmet mich wie ein Totenhaus an.« Das und noch mehr stand in einem Brief an Professor Freundlich, den er Mitte Januar schrieb: »Diesmal wurde eher beklommen als lauthals gefeiert. Die Luft ist raus. Die Lügen der regierenden Masse hinken, ob lang-oder kurzbeinig. Bei mauer Stimmung schlug es zwölf; kein Vergleich zum Vorjahr, als jedermann glaubte, es bestehe Anlaß, in Jubel auszubrechen, ein Faß aufzumachen und mit Feuerwerkskörpern den nachtschwarzen Himmel zu illuminieren. Ersatzweise bietet nun der seit gestern in Szene gesetzte Golfkrieg ein Spektakel, das zumindest auf Fernsehschirmen furchtbar lustig zu sein scheint, doch Ihren Töchtern in Israel schrecklich nahe sein wird. Jeder hat auf seine Weise recht. Überall Sieger. Alle töten in Gottes Namen. Ach, lieber Freundlich, wie soll mir in solcher Gesellschaft eine Denkschrift gelingen?«
Dabei hätte er es sich leichtmachen können. Seinem Plauderton, der alle Abwässer dieser Welt mit stets gleichbleibendem Schwung überbrückte, wären hundert pointensichere Anekdoten geläufig gewesen. Er hätte nur die private Kiste lüften müssen: »Als ich als Gefreiter der Luftwaffe hier ein und aus ging …« Oder: »Während meiner langjährigen Tätigkeit als Aktenbote im Haus der Ministerien …« Er fand ja überall Zutritt und kannte in den Vorzimmern etliche Sekretärinnen, die, ohne Rücksicht auf geschichtliche Wenden, wechselnden Herren gedient hatten. Er hätte sogar Emmi Wuttkes Erzählungen aus Reichsluftfahrtzeiten und ihre Erinnerungen an Erlebnisse im Luftschutzkeller in seinen Bericht einfließen lassen können. Nicht er, die Schreibmaschinenkraft Emmi Hering durfte aus einem der Dienstzimmer dem Trauerakt für Udet und Mölders im Ehrenhof zuschauen; und ein Jahrzehnt später sah Emmi, wie sich die streikenden Arbeiter von der Stalinallee in Kolonnen dem Portal näherten, denn als Büroangestellte hat Frau Wuttke lange vor Fonty, ab Anfang der fünfziger Jahre, Arbeit im Haus der Ministerien gefunden. Erst Ende 61 wurde ihr gekündigt, weil die Söhne im Westen geblieben waren; »Republikflucht« wurde dieses strafwürdige Vergehen genannt. Spät hat uns Emmi davon berichtet: »Wir standen ja unter Druck und durften nich reden …« Und jenes postkartengroße Photo des Fliegerhelden Galland, mit Widmung und Unterschrift, hat sie uns erst kürzlich gezeigt: »Der sah gar nich militaristisch aus, eher wien Herzensbrecher, mit seinem Lippenbärtchen. Deshalb hat mein Wuttke das Photo zerreißen gewollt. Na, weil wir verlobt waren und er immer eifersüchtig …« Richtig, auch damit hätte Fonty seine Denkschrift aufpäppeln können: wie er und Emmi einander zum ersten Mal im Paternoster begegnet sind. Das war nicht im Juni 40, als der Gefreite Wuttke mit seinem ersten stimmungsvollen Bericht aus dem besetzten Frankreich zurückkam: »In Domrémy und Orléans besuchen unsere sieggewohnten Soldaten Jeanne d’Arc …«, sondern schon im April, als Emmi ein Reisefeuilleton aus dem Protektorat Böhmen und Mähren als ersten Beweis ihrer Liebe abtippen mußte.
Wie auch immer: Fonty wollte nicht privat werden. Selbst dem Rat des Brieffreundes aus Jena, der ihm schon vor Jahresende empfohlen hatte, seinen altbewährten Plauderton anzuschlagen, konnte er vorerst nicht folgen. Zu verquer lag das sperrige Material. Zu grau lastete auf allem der Muschelkalk. Der Koloß hielt sich Fonty wie einen Gefangenen. Aber in einer Paternoster-Epistel, die dem evaluierten Professor Antwort gibt, finden wir bereits skizziert, was später die Denkschrift belebt hat: »Ahne schon, lieber Freundlich, Sie werden mir abermals nahelegen, anekdotisch zu werden, indem ich, zum Beispiel, die eher traurige Geschichte von jenem Widerstandsnest im Reichsluftfahrtministerium erzähle, das von der Gestapo während
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