Ein weites Feld
immer noch gültigen Feststellung gebracht hat: ›Protestantische Kirchen sind immer zu!‹ So ist das mit den Erinnerungen. Sobald Sie mir aus Ihren frühen Jahren in Mexiko erzählen und dabei gern der kuriosen Alltäglichkeit Tribut zollen, höre ich mir vertraute Töne. Der späte Blick zurück spießt sich mit Vorliebe Absurditäten. Das Ridiküle gewinnt. Der Held wird zur komischen Figur. Damals jedoch wurde mein, wie Emilie sagt, ›Einundalles‹ in der jungschen Apotheke entweder als verkappter Revolutionär oder als verkappter Spion angesehen und so oder so gefürchtet. Nun, er war wohl mehr ein Revoluzzer, der neugierig bis fasziniert zuguckte, hier die freiheitstrunkene Barrikadenherrlichkeit, dort die in der Apotheke nach Lebertran anstehenden Hausfrauen im Auge hatte, wobei der Lebertran eigentlich für die skrofulösen Kinder bestimmt war, doch zumeist als Lampenöl benutzt wurde. Das hat den fünfzig Jahre später Berichtenden zu dem Ausruf hingerissen: ›Freiheit konnte sein, Lebertran mußte sein!‹ Natürlich siegte der Lebertran. Und ist es, mein lieber Freundlich, vor wenig mehr als einem Jahr, als wir den realen Sozialismus gegen den gleichfalls realen Kapitalismus tauschten, nicht genauso banal zugegangen? Nur daß anstelle von Lebertran diesmal die westliche Banane im Angebot war. Vom 17. Juni nicht zu reden. Zwar wurde auch damals Freiheit als höchster Handelswert ausgerufen, doch nach dem Auftritt der sowjetischen Panzer war Stille gleichfalls billig zu haben. In einem Kulturbundvortrag, der mir, wie Ihnen vielleicht noch erinnerlich ist, viel Ärger eingebracht hat, ging ich zwar von den achtundvierziger Märzereignissen aus, indem ich den vormaligen Revoluzzer zitierte: ›… lebte meinerseits mehr der Überzeugung von der absolutesten Unbesiegbarkeit einer wohl disziplinierten Truppe jedem Volkshaufen, auch den Tapfersten gegenüber …‹, zog aber dann gewagte Parallelen zu den Juniereignissen. Denn allzu schnell war man bereit, die obrigkeitliche Rücknahme der Normen für einen Sieg zu halten. So kürzlich hier und abermals. Ob Lebertran oder Bananen käuflich sind, die Freiheit kommt bei solchem Handel allemal zu kurz. Stimmt, lieber Freundlich. Höre und akzeptiere Ihren Einwand. 48 und 53, im März und Juni gab es Tote; diesmal ging es unblutig zu. ›Sanfte Revolution‹ war das Wort. Aber nur deshalb floß kein Blut, weil die Arbeiter- und Bauern-Macht nicht mehr Staat sein wollte, vielmehr beschloß, in dem anderen aufzugehen, auf daß wir nun dem vergrößerten Weststaat – dank unserer Mitgift, dem Knacks in der Biographie -zur Last fallen werden, bis der an sich selbst gescheiterte Kommunismus seinen Zwillingsbruder, den jetzt noch vital auftrumpfenden Kapitalismus, gleichfalls in die Grube gezogen haben wird. Diese mir sonst unübliche Schwarzseherei gehört natürlich nicht in die Denkschrift. Aber andeuten will ich schon, daß der damalige Aufmarsch streikender Arbeiter vorm Haus der Ministerien auch den jetzigen Nutznießern des Gebäudes, also der Treuhandanstalt blühen könnte. Zweifelsohne soll hier eine kolossale Privatisierungsmaschine in Gang gesetzt werden. So etwas wird auf Dauer nicht hingenommen. Und deshalb wurde mir beim Rückblick auf die achtundvierziger Märzgefallenen bis zur Schmerzgrenze deutlich, daß ein aufständisches Volk, und wenn es nichts hat als seine nackten Hände, schließlich doch notwendig stärker ist als die wehrhafteste geordnete Macht; wenn nicht heute, dann morgen. Damit soll es genug sein. Wie ich Ihrem wie immer unterhaltsamen Brief entnehme, hält der Fußballclub Carl Zeiss Jena (wenn auch zuunterst) seinen Tabellenplatz und beginnen Sie, Ihrem an sich mißlichen Zustand ersten Geschmack abzugewinnen, indem Sie Ihr Vielwissen in Sachen Jurisprudenz auf neuesten Stand bringen und sich als Steuerberater nützlich machen. Recht so! Steuerberatung muß sein! Wir lassen uns nicht aufs tote Gleis schieben. Wie telegen auch immer die Zeiten auf Krieg gestimmt sind, wir dürfen nicht schlappmachen. Selbst Ihren Töchtern wird Israel mittlerweile als fragwürdig erscheinen, so begeistert sie sich auf den Weg ins Gelobte Land gemacht haben. Andererseits weiß man nie. Jeder Krieg schnipselt sich seine Helden zurecht. Uns bliebe dann nur ein gehäufter Löffel Resignation, der aber durchaus belebend sein kann … Was Ihre freundliche Nachfrage nach meiner Emilie betrifft: Der geht es mal so und mal so. Gestern noch war ihr
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