Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
Vom Netzwerk:
sterbenselend, doch heute früh begann sie, mit dem Rehleder alle Fenster zu putzen. Von meiner Tochter bekomme ich nur mecklenburgische Mißlichkeiten zu lesen. Der Ehestand bekommt Mete nicht. Aber das ist, wie Sie wissen, ein zu weites Feld. Am besten, man gewöhnt sich und klagt nur mäßig. Schließlich bleibt, wie man im Westen sagt, viel zu tun: ›Packen wir’s an!‹ In diesem Sinne will ich mich wieder über meine Denkschrift hermachen, der insgesamt ein lebendiges, mehr noch, ein zwingendes Bild fehlt …«
    Darüber verging der Januar, ein Monat, der mit Stürmen auftrat, ab dessen Mitte in der Golfregion nur noch die Waffen sprachen, neue Vernichtungssysteme erprobt wurden, Ölfelder in Brand gerieten, die Börsenkurse mit Kriegsbeginn stiegen, dann wieder fielen, ein für clever gehaltener Ministerpräsident zurücktrat und sich nach Thüringen verdingte, sowjetische Panzer in Litauen gegen die protestierende Bevölkerung zum Einsatz kamen, Gorbatschows Stern zu sinken begann und seit plötzlichem Kälteeinbruch Schnee fiel. Aber ab Anfang Februar, als der Golfkrieg alltäglich zu werden drohte und die Renovierungsarbeiten im Treuhandgebäude deutlich voranschritten -die Marmoreinfassungen der über zweitausend Zimmertüren glänzten auf poliert –, gelang es Fonty, das ihm fehlende Bild zu finden. Wie immer, wenn es am Lebendigen mangelt, half bloße Anschauung. Er sah, als er im Erdgeschoß in den aufsteigenden Paternoster steigen wollte, aber zwei wartende Elektriker vor sich hatte, in einer absteigenden Paternosterkabine jemanden, dessen Anblick ihm von Photos bekannt war: den Chef der Treuhand.
    Allein, doch von kräftiger Statur die Kabine füllend, kam er mit den Hosenbeinen zuerst, dann in ganzfigürlichem Flanell von oben, wo er die zukünftige Chefetage besichtigt haben mochte. Jemand, von dem Willenskraft ausging. Eine Person, der mit Jacke und Hose der Erfolg wie angepaßt saß. Ein ganzer Kerl sozusagen. Kaum hatte der Chef mit sicherem Schritt die Kabine verlassen, kaum war er an Fonty, der gegrüßt wurde und zurückgrüßte, vorbei, und kaum waren die Elektriker mit ihren Werkzeugkisten nach oben verschwunden, sah Fonty, der nicht einstieg, vielmehr zögerte und dem mit Gefolge davoneilenden Chef nachblickte, sich selbst um ein halbes Jahrhundert rückversetzt. Er sah sich in Luftwaffenuniform und mit schräg sitzendem Käppi gleichfalls im Erdgeschoß auf die nächste freie Paternosterkabine warten, vor ihm zwei Offiziere. Es war der Reichsmarschall, der von oben kam. Die blankgewichsten Stiefel kamen zuerst, aus denen sodann die mit Marschallbiesen besetzten Hosen beutelten. Nun kam in ganzer Fülle die bekannte Figur, schließlich der feiste Kopf und dessen weicher, um Härte bemühter Ausdruck. Seine Kostümierung entsprach dem geflüsterten Berliner Spott jener Jahre: »Rechts Lametta, links Lametta, in der Mitte ganz ein Fetta.« Fonty, oder besser, der Gefreite Wuttke sah die Brust voller Orden und den Pour le mérite unterm fleischig gepolsterten Kinn, sah, wie in dem aus Wochenschau und von Photos bekannten Gesicht zwei Schauspieler namens Kleinmut und Größenwahn miteinander kämpften, er sah, wenngleich weggeschminkt, die Spuren unstillbarer Morphiumsucht in des Reichsmarschalls zur Schau gestellter Maske. Mag sein, daß Fontys Rückblick vergleichsweise ein Photo im Auge hatte, das seit kurzem an der Pinnwand seines Treuhandzimmers hing und den eher schlaff wirkenden Marschall während des Nürnberger Prozesses auf der Anklagebank abbildete. Nach der Urteilsverkündung hat er eine Giftkapsel zerbissen. Nur in Fontys Rückblick war er leibhaftig. Beim Ausstieg stand ihm ein Adjutant bei. Die nächsten absinkenden Paternosterkabinen brachten des Reichsmarschalls Gefolge. Die Offiziere vor Fonty verpaßten ihre auf steigende Kabine und grüßten militärisch, wie es weniger zackig Fonty tat, der seine rechte Hand eher reflexhaft zum schräg sitzenden Käppi führte. Verlangsamt lief nun der Film, Zeitlupe, Schnitt. Kaum war dieser Streifen vorbei, begann Fonty aus gleichem Blickwinkel, doch mit neuer Filmrolle den historischen Übergang zu drehen. Nach so vielen Uniformen ordnete er nachkriegsbedingte Zivilkleidung an und ließ den späteren Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, den das Volk »Spitzbart« nannte, in sinkender Kabine aufkommen: mit Bäuchlein und sächsisch verkniffen. Fonty stellte sich den Parteisekretär vor, wie er am 7. Oktober 1949, gleich nachdem der

Weitere Kostenlose Bücher