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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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zwölf. Im Rundfunk, im Fernsehen: zwölf. Und auf Schlag zwölf stiegen besonders kostspielige, bisher mühsam zurückgehaltene Raketen in jeder Himmelsrichtung hoch und entfalteten sich wunderbar. Mit dem ums Tor versammelten Volk schäumten Sekt und Büchsenbier über. Wie losgelassen hüpfte die Menge. »Wahnsinn!« rief sie, »Wahnsinn!« Die Tollkühnen auf dem flachen Dach des Tores sprangen hoch, wollten höher, noch höher hinaus. Und jetzt erst löste sich aus dem Gebrüll einzelner Worte vielstimmiger Gesang. Schunkellieder zuerst – »So ein Tag, so wunderschön wie heute …« –, dann aber des armen Fallersleben gutgemeintes, später zur Nationalhymne gesteigertes Lied. Ansteckend, mitreißend folgte es anfangs noch der zugelassenen dritten Strophe: »Einigkeit und Recht und Freiheit …«, dann aber mußte es die verdammte erste, seit letztem Krieg verfemte Strophe »Deutschland, Deutschland über alles …« sein, die dem Volk den Weg ins neue Jahr zu weisen hatte. Da war von Einigkeit und Recht und Freiheit nur noch wenig zu hören; dünnstimmig gingen sie verloren. Noch versuchte Fonty mit »des Glückes Unterpfand« gegenzuhalten, doch hatte, dicht neben ihm, Hoftaller mehr Stimme. Sein »Über alles in der Welt« war auf Siegers Seite. Wie nach zu langer Zurückhaltung sang er sich lauthals frei. Jetzt sah man, daß er beim Singen weinte. Fonty sah, daß der singende Hoftaller weinte. Er ließ von der dritten und vergeblichen Strophe ab und sagte: »Aber Sie weinen ja, Tallhover. Habe nicht geahnt, daß Sie richtig weinen können. Gratuliere!«
    Mit glänzend rundem Gesicht sah er wie ein weinendes Kind aus. Tränen kullerten über die Backen zum Kinn, perlten ab. Ein glückliches Weinen, das erst mit dem Singen sein Ende fand. Doch so mitgerissen er sang und weinte, seine Augen blieben unbeteiligt grau, alt, aber nicht müde: Hoftallers Blick.
    Noch bevor sich die Massen verliefen, waren Fonty und sein Tagundnachtschatten unterwegs: die Linden runter. Von vorne gesehen, sahen sie gegensätzlich aus, von hinten beobachtet, zueinander passend, wie Teilstücke in einem Puzzle; doch aus jeder Sicht gaben beide ein Doppelportrait ab, geschaffen für immer neue Skizzen.

4 Viele Vaterunser lang
    Da sind sie wieder, vor das Portal gestellt. das beide zu Winzlingen macht. Kein Zufall wirkte, der Architekt hatte sich dem Willen eines Bauherrn unterworfen. dem das Bombastische als Uniform angepaßt saß. In jener zurückliegenden Zeit wurde ein Berliner Spottlied verboten, das mit dem Kehrreim »Hermann-heeßt-er …« ausklang; und dieser besungenen Größe sollte hoch und breit das Portal entsprechen. Fortan wurde jeder, der entschlossen oder zögernd Anlauf, dann die Stufen nahm, durch eine Architektur verkürzt, die vorm Eintritt alle Personen schrumpfen ließ, denen sie Diensträume und Sitzungssäle hinter fugendichten Muschelkalkfassaden eingeräumt hatte. Wer sich hier näherte, empfand sich als geduckt, ob ministerieller Mitarbeiter gleich welchen Ranges oder Besucher des Hauses. Sogar Staatssekretäre, die im Dienstwagen vorfuhren, und hohe ausländische Gäste, etwa Italiens Graf Ciano oder Ungarns Admiral Horthy, mußten die augenblickliche Minimalisierung erdulden, und sei es als Gefühl inwendiger Enge. So übte das Portal gleichmachende Gerechtigkeit. Alle, die ihm nahe kamen, hatten sich zwangsläufig als degradiert zu begreifen; erst im Inneren des über endlose Korridore verzweigten Gebäudes herrschte wieder jene den Dienstweg bestimmende Rangfolge, nach der es Untergebene und Vorgesetzte, die abgestufte Ordnung gab. Um so viel Erniedrigung und Erhöhung zu erfahren, mußte zuvor eine Durststrecke überwunden werden: Dem breitgelagerten und mit mehreren Büroflügeln in die Tiefe gehenden Gebäudekomplex war von der Straßenseite her eine Freifläche ausgestanzt worden; jeder, der in Zivil oder Uniform zum Portal wollte, hatte den Ehrenhof zu überwinden.
    Von drei hochragenden Fassaden flankiert, lag er als Präsentierteller. Selbst nach dem Krieg, als der Ehrenhof nicht mehr Ehrenhof hieß, haben ihn viele als bedrückend, wenn nicht überwältigend empfunden; Fonty jedoch hatte seine Ausmaße schon in jungen Jahren als »zu kolossal« eingeschätzt. Wenn wir auch zugeben, daß »kolossal« zu seinen Lieblingswörtern gehörte und er wenig Hemmung kannte, irgend etwas – und sei es ein Blumentöpfchen – »kolossal niedlich« zu finden, muß gesagt sein: Zum Ehrenhof paßte sein

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