Ein weites Feld
Und das steht mir fest, wenn sie sie Jetzt nicht erleiden und sich jetzt auch nichts ändert, so bricht in Zeiten, die wir beide freilich nicht mehr erleben werden, eine schwere Heimsuchung über sie herein.‹ Na, Fonty? Richtig zitiert?« Schon standen sie inmitten der Masse, die sich vorm offenen Tor staute. Fonty alterte unter dem lastenden Zitat: »Wir haben sie erlebt, diese Zeiten. Ich weiß, Tallhover, ich weiß. Und Sie wissen noch mehr. Nicht jeden meiner Briefe möchte ich geschrieben oder so geschrieben haben. Es war wohl die
Zeit damals …«
»Schwamm drüber!« rief Hoftaller. »Fürchte, diese
Schande wird bleiben …«
»Ach was, Fonty! Damit leben wir. Gibt ja noch andere
Sachen, die vor sich hin ticken, zum Beispiel …« Da
stiegen die ersten Raketen, obgleich es noch gut eine halbe
Stunde vor Mitternacht war. Die Masse guckte den
Raketen nach, die als Leuchtschirme und Goldregen aufgingen; und mit der Masse blickten die beiden gen Himmel.
Nun hätte man sehen können, wie rundum unschuldig Hoftaller aufschaute: beglänzt vom Widerschein, in kindlicher Freude. Auch so konnte er aussehen.
Und nur dieser Details wegen, nur um sein flächiges Gesicht voll aufzuhellen, soll hier das Silvesterfest ums Brandenburger Tor bis zum Glockenschlag und einige Minuten länger ablaufen; denn wie er himmelwärts starrt, sind uns seine unter kurzer Knolle großen Nasenlöcher wichtiger als der zum Jubelfest aufgepumpte Jahreswechsel. Damals glaubte man, einen Sieg, wenn nicht errungen, dann geschenkt bekommen zu haben: Siegesraketen, die auf Hoftallers vergreistes Kindergesicht Lichter setzten. Sein Erstaunen über den Raketenhimmel und den himmelhoch proklamierten Weltfrieden wurde von rundgewölbten Augenbrauen beglaubigt. Und wie das entfesselte Volk nur das offene Tor sah, erlebte er sich und sahen wir ihn mit offenem Mund, in dem tadellos gerichtete Ersatzzähne blinkten.
Von der nationalen Rührkelle bis zum Bodensatz aufgewühlt, meinte er, vereint, geeint, nicht nur mit sich einig zu sein. Entsprechend laut waren er und das Volk.
Noch herrschte planloser Eigensinn. Jeder rief, was ihm einfiel. Viel Geschubse, weil alle von besserem Platz aus bessere Sicht erhofften. Dabei gab es, außer Raketen für jedermann, nur das mächtig überragende Tor zu sehen. Kein Betonwulst sperrte mehr ab. Klotzig stand es in Licht gebadet und versprach, bald für Taxis und Busse offen zu sein. Noch stand auf dem beliebten Briefmarkenmotiv als Krönung die mal nach Osten, mal nach Westen reitende Quadriga. Hunderte waren über ein angrenzendes Baugerüst auf das flache Dach des breitgelagerten Tores gestiegen; dabei war es zu Unfällen, sogar tödlichen gekommen, doch das bemerkten nur wenige.
Fonty stand unschlüssig neben seinem Tagundnachtschatten. Er wollte weg:
»Kolossal zuwider sind mir Aufläufe, die partout Ereignis sein wollen.«
Hoftaller hielt ihn am Ärmel und rief irgendeinen Unsinn: »Dabeisein ist alles!«
»Hab schon siebzig-einundsiebzig, als man hier siegreich durchmarschierte, nicht hingucken wollen …«
»Aber dazumal ist Ihnen, wie nach jedem gewonnenen Krieg, auch zu dieser Parade ein säbelrasselndes Gedicht eingefallen.«
»War trotzdem ridikül, das wiederholte Triumphgeheul …«
»Unsinn, Fonty! Haben doch kürzlich noch, als wir auf unserem Sonntagsbummel bei den Mauerspechten waren, sich selbst zitiert: Strophe nach Strophe …«
»Eine sentimentale Anwandlung nur …«
Hoftaller ersparte ihm nicht das forsche Gereime: »Und siehe da, zum dritten Mal ziehen sie ein durch das große Portal …« Davon wollte Fonty nichts hören: »War bloße Mache. Und alles zum falschen Anlaß. Ist ihnen zu Kopf gestiegen: Siegen macht dumm! Wollten sich groß und größer plustern. Wird auch diesmal nicht besser über den Leisten kommen. Sind doch schon da: die Treibels! Die machen als erste ihren Schnitt. Und genau das habe ich Friedel geschrieben, als ich ihm diesen Roman als Futter für den jüngst gegründeten Verlag in Aussicht stellte: ›… das ist die Tendenz der Treibels. Das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes …‹ Natürlich war meine Emilie wieder mal überängstlich. ›Du gehst zu weit! Du engagierst dich ungebührlich!‹ – ›Draufgänger!‹ hat sie mir ins Gesicht gesagt. ›Du Hitzkopf! Du Jüngling!‹ Dabei war ich schon über siebzig hinaus …« Hoftaller kam nicht mehr zu Wort. Überall schlug es zwölf. In Ost und West:
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