Ein weites Feld
hinzu kam das Judentum, ein Umstand, der übrigens auch den Brieffreund Friedlaender gehindert hat, sich in seinem Ehrenhandel mit einem adligen Widersacher zu schießen. Gott sei Dank, rufen wir heute. Das ging gut aus. Doch zu meinem Chef sagte ich: ›Der Fall Förster Wilderer ist unausweichlich. Beide haben recht. Beide wollen aus plausiblen Gründen Rache nehmen. Gleich, wer fällt, einer muß fallen. Auch das ist Gesetz.‹
Dann war allerdings einzuräumen, daß ich mich in dieser Sache oft schwankend sehe. Ich sagte: ›Mal gebe ich der ordnungsstaatlichen Rechtsprechung, dann wieder dem anarchischen Freiheitswillen den Vorzug. Obgleich ich im Grunde für Ordnung bin, mußte in ›Quitt‹ der Förster zu Fall kommen, weil nur dem Wilderer Schuld aufzubürden war, auf daß er dieses Gepäck im Verlauf der Erzählung nach Amerika schleppen konnte. Wäre der Wilderer Lehnert Menz tot umgefallen, weil der Förster Opitz als erster zum Schuß kam, hätte die Geschichte rasch ihr Ende gefunden, denn der Staatsbeamte sieht sich immer im Recht, empfindet nie Schuld, weshalb er wieder und wieder – sei es in dieser, sei es in jener Funktion – Grund bietet, ihn zu töten; zwar ist das Gesetz, doch nicht das Leben auf seiner Seite.‹ Als ich das sagte, lachte mein Chef in jener jungenhaften Manier, die als Ausflucht all diesen tüchtig zupackenden Endvierzigern, die partout nicht erwachsen werden wollen, geläufig ist. (Im Westen nennt man sie ›Achtundsechziger‹, in Anspielung auf eine Scheinrevolution, die uns erspart wurde.) Nach einigen Scherzen über meine, wie er sagte, ›mordlustige Logik‹ flog ihn dann doch so etwas wie Nachdenklichkeit an. Er fragte sich ernsthaft, ob das von mir an die Wand gemalte Förster-Wilderer-Verhältnis auf seine Position zu übertragen sei. Ich versuchte, unser Gespräch wieder in literarisch-fiktionale Bahnen zu lenken, erwähnte den gleichfalls nach Amerika geflüchteten Kommunarden L’Hermite, der einen Bischof ermordet, genauer, hingerichtet hatte und nun, in Wohngemeinschaft mit dem Wilderer Lehnert, an seiner Schuld kaute. Doch diese Ablenkung trug nur zu weiterer Vieldeutigkeit bei und machte alles, ganz nach den Worten meiner Emilie, ›immer noch schlimmer‹. ›Hab schon verstanden‹, sagte mein Chef. ›Muß nicht unbedingt ein Förster sein, der zu Fall kommt. Denken Sie nur an den Tod des Bankiers Herrhausen oder den Saarländer literarischen Namens, der nur mit Glück überlebte. Aber auch mich könnte man im Visier haben. Auch ich stehe für Recht und Ordnung, verkörpere sozusagen die Staatsmacht. Ihr Fall ›Quitt‹ bleibt modellhaft selbst dann, wenn Sie diesen Roman als verunglückt ansehen. Klar doch: Ich gebe in diesem Rollenspiel die Schießbudenfigur ab, muß aber dennoch stur nach Gesetz handeln …‹ Sie können mir glauben, lieber Freundlich, so sind diese Herren: im Umgang charmant, doch unerbittlich in der Sache. Übrigens kam ich vom siebten Stock, als er im vierten zustieg und sogleich mit gewinnendem ›Darf ich Fonty zu Ihnen sagen?‹ das Gespräch eröffnete. (Wie mögen wohl Sie, als geeichter Jurist, über diese Rechtsfragen denken?) Ja, lieber Freund, ich sehe mich oft an Ihren unfreiwilligen a.D.-Zustand erinnert. Denn was Ihnen in Jena widerfuhr, als man Sie, eine wissenschaftliche Kapazität hohen Grades, noch einmal in die Schulbank zwängte und einem Examen nach westlicher Prüfungsordnung unterwarf, ist nicht weit von der hier praktizierten Abwickelei entfernt. Ein Betrieb nach dem anderen wird für Nullkommanichts verscherbelt, woraufhin der Käufer ihn zumacht, damit ihm ja keine Konkurrenz erwächst. So geschah es mit der ›Interflug‹. Das Aus für den Trabi in Zwickau wird als Echo ein Aus für den Wartburg in Eisenach haben. Unsere hausinterne These lautet: Bei Lichte besehen ist alles Schrott! Aber genauso richtig ist: Im reinen Licht verbrennt alles. Dabei geht es um Menschen, nicht wahr? (Doch wie verächtlich dem Leben gegenüber verweigert man Ihnen das bißchen Sauerstoff, nach dem wir alle – ob kleiner, ob großer Fisch – schnappen?) Aber nein, solch simpler Einsicht steht das Treuhandgesetz im Wege; vor ihm besteht nur Besitz. Würde mich deshalb nicht wundern, wenn es irgend jemanden jucken sollte, einem anderen Gesetz zur Wirkung zu verhelfen. Ohne Wilderer keine Förster und umgekehrt. Doch darüber demnächst mehr …« In Fontys Brief an Professor Freundlich steht ein auf den Bogenrand gezwängter
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