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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Nachsatz: »Sie dürfen den Zwillingsschritt Ihrer Töchter nach Israel – mag er nun richtig oder falsch sein – keinesfalls als eine Entscheidung werten, die Ihre ohnehin schwierige Position erschwert; als Väter sollten wir wissen, daß uns die Kinder so oder so verlorengehen.«
    Diese Tugend wurde in allen Stockwerken positiv gewertet: Der Chef der Treuhand traf preußisch pünktlich am frühen Montagmorgen in Berlin ein, blieb die Woche über bis zum Freitagabend, nahm die letzte Maschine und landete spät in Düsseldorf, wo er auf der linken Rheinseite das Wochenende über mit der Familie lebte, geruhsam, wenn er nicht allzu viele Abwicklungsvorgänge in seinen Aktenkoffer gepackt hatte. So stellten wir uns diesen dynamischen Mann vor, und Fonty bestätigte seinen mobilen Arbeitsrhythmus. Woanders riß eine Unsitte ein, nach der die aus Westdeutschland anreisenden Führungskräfte erst am Dienstag, so gegen Mittag, in Berlin, Erfurt oder Schwerin, in Halle, Dresden oder Potsdam eintrudelten und sich bereits am Donnerstagabend westwärts auf die Socken machten, weshalb man sie »Dimidos« nannte. Nicht so der Chef der Treuhand. Dessen Arbeitswut paßte in keine WessiSchablone. Oft flog er erst am späten Sonnabendnachmittag zurück, und häufig saß er bis in die Nacht hinein am Schreibtisch oder lief alle Räume ab, die zum Sicherheitstrakt des Gebäudes gehörten, weshalb deren zentraler Zugang im vierten Stockwerk durch eine Panzerglasscheibe geschützt wurde. Und doch konnte es geschehen, daß der Chef um Mitternacht den Sicherheitstrakt verließ, den ihm verordneten Personenschutz abhängte, allein durch das verlassene Gebäude eilte, ruhelos von Stockwerk zu Stockwerk wechselte und die Linoleumböden der Korridore ausmaß, als wären sie Rennpisten; denn nicht als Wanderer, sondern auf Rollschuhen war er unterwegs. »Zuviel sitzende Tätigkeit und fehlende Bewegung« hieß die Begründung seiner vom Arzt verordneten Sportübung. Da der Paternoster -gleich ihm -nachts nicht ruhte, konnte der Chef der Treuhand, ohne die Rollschuhe abschnallen zu müssen, mühelos die Etage wechseln, neuen Anlauf nehmen und sein Rollfeld erweitern. Und so geschah es, daß ihm in einer Nacht vom Freitag zum Sonnabend – es muß Mitte März gewesen sein – der freie Mitarbeiter Theo Wuttke in der siebten Etage begegnete, zufällig, kurz nach Mitternacht. Der Chef rollte auf dem besonders langen Korridor des Nordflügels wie ein Profi beim Training. Er beschleunigte, hielt gleichmäßiges Tempo, setzte gleitend auf, hob raumgreifend ab, lief in der Haltung eines Langstreckenläufers, war selbst dort, wo er, auf ärztlichen Rat hin, Entspannung suchte, von Ehrgeiz getrieben, überbot seine vornächtliche Leistung um den Bruchteil einer Sekunde und mochte schon ein halbes Dutzend Kilometer hinter sich haben, als ihm jemand in Schnürschuhen entgegenkam, der sich auf dem Rückweg von der Toilette befand. Auch wenn wir wissen, daß der Chef seinen freien Mitarbeiter beim Paternostergespräch vertraulich mit »Fonty« angesprochen hatte, vermuten wir, daß er ihn bei der Begegnung zu nachtschlafender Zeit mit der Floskel »Na, Herr Wuttke, immer noch fleißig?« begrüßt haben wird, und zwar nicht im Vorbeilauf; vielmehr unterbrach er sogleich sein Training. Und Fonty könnte seinen späten Fleiß mit Hinweisen auf die familiäre Situation in der Kollwitzstraße erklärt haben: »Meine Frau sieht das gar nicht gerne, wenn ich bis in die Nacht hinein aushäusig bin. Aber Ruhe, um einen Gedanken zu fassen, der nicht am Aktuellen klebt, finde ich zweifelsohne nur hier …« Wir sind sicher: Kein Wort fiel über die Rollschuhe. Kein erstaunter Seitenblick, kein »übrigens …« Selbst wenn der Chef mit Flügeln über die Korridore geeilt wäre, hätte ihn Fonty nicht zum Engel verklärt. Nur knapp stellte er fest: »Wie ich sehe, kennen auch Sie, Herr Doktor, kein Ende.« Diskret wurden die Hartgummirollen übersehen, und gleichfalls sah der Chef keinen Anlaß, seinen sportlichen Auftritt zu erläutern, zumal er nicht in einem Trainingsanzug, sondern zivil gekleidet, allerdings ohne Schlips und Jacke, sein Laufpensum hinter sich brachte. Er empfand seine mitternächtliche Ruhelosigkeit als normal und hatte dabei sein jungenhaftes Lachen zu Gebot. Dann aber liefen ihm die Bekenntnisse davon: »Können Sie mir glauben, Herr Wuttke – oder darf ich, wie kürzlich, Fonty sagen? –, daß die mir aufgehalste Arbeit … Dazu kommt die

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