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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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aber klug von dir, daß du alles so vernünftig siehst …«
»Na ja. Manchmal muß ich weinen. Ich bin ja erst neun. Aber dann sag ich mir immer: Lieber keine Familie als eine zerstrittene, wo immer nur Zoff ist. Du zitterst ja immer noch.«
»Ja, Kind.«
»Mußt du aber nicht, wirklich.«
»Ich weiß.«
»Zuerst habe ich auch bißchen gezittert.«
»Wie heißt du denn? Warum fliegen wir nicht?«
»Also, ich heiße Agnes. Und fliegen tun wir nicht, weil wir noch keine Starterlaubnis haben. Das ist manchmal so und kann noch dauern. Wie findest du Agnes?«
    »Kannte ein Kind, das hieß auch so. Und diese Agnes saß oft am Fenster zur Terrasse und blätterte langsam in einem Bilderbuch, in dem Schlösser und Seen mit Schwänen drauf, aber auch Husaren zu sehen waren. Und die Mutter dieser kleinen Agnes, die keinen Vater hatte … Ich wünschte, wir wären schon oben …« Das Kind legte seine Patschhand auf Fontys rechte, besonders zittrige Hand, die sich am Knie zu festigen suchte. Das half ein wenig, die Kinderhand auf seinem verzweigt geäderten Handrücken. Er schloß die Augen und erzählte sich weit zurück, erzählte vom See und dem aufsteigenden Wasserstrahl, von Wetterfahnen im Spinnwebmuseum und dann vom alten Stechlin, der komischerweise mit Vornamen Dubslav hieß; und von dessen Diener Engelke und der Kräuterhexe Buschen erzählte er, aber dann nur noch von dem Kind Agnes, das, dem alten Mann zur Gesellschaft, in roten Strümpfen ganz still vorm Terrassenfenster saß und in einem Bilderbuch blätterte, das eigentlich ein Band zusammengebundener Landwirtschaftszeitungen gewesen ist: »Und als es mit Dubslav ans Sterben ging, sagte das Kind: ›Is he dod?‹ Aber der Diener Engelke sagte: ›Nei, Agnes. He slöppt en beten …‹ Die andere Agnes rief: »Kannst du aber schön erzählen! Erzähl noch mehr …« Da wurde Fontys Bericht über die Sterbestunde des alten Stechlin von einer Durchsage unterbrochen: »Hier spricht Kapitän Morris …« Zuerst wurde in englischer, dann in deutscher Sprache auf ein Gepäckstück hingewiesen, das sich an Bord der Maschine befinde und noch einmal, aus Sicherheitsgründen, der Kontrolle zugeführt werden müsse. Leider sehe man sich gezwungen, zwischenzeitlich alle Passagiere zum Verlassen des Flugzeugs aufzufordern. British Airways bedaure sehr. Während Agnes sich und ihre Puppe abschnallte, dann Fonty beim Abschnallen behilflich war, sagte sie: »Das kenn ich. Ist bestimmt wieder so ein Bombenalarm. Dauert nie lange. Und draußen gibt’s Erfrischungen gegen Gutschein. Da kannst du mir dann weiter von der Kräuterhexe erzählen, die eigentlich die Großmutter von der kleinen Agnes war, und von dem Lehrer, der Krippenstapel hieß, und von Engelke und dem Alten im Stuhl und noch mehr von der Agnes mit den roten Strümpfen. Aber auch, warum sich die Schwester von dem Alten, die aus dem Kloster, so sehr über die roten Socken geärgert hat …«
    Wir waren nicht besonders überrascht. Dieser Zugriff war, obgleich wir dichtgehalten hatten, zu erwarten gewesen. Oder hat einer von uns – damals stand ja so ziemlich jeder unter Verdacht – einen kleinen Verrat für nützlich gehalten?
    Im Flughafenbistro, wohin die Stewardeß die Passagiere führte und wo gegen Gutscheine Erfrischungsgetränke in Pappbechern ausgeteilt wurden, saß, obgleich alle nach London gebuchten Passagiere die Paßkontrolle hinter sich hatten und sich im Duty-Free-Bereich befanden, bereits Hoftaller, dank einer, wie er später sagte, »freundlich bewilligten Sondererlaubnis«.
    Er ging, in grauem Flanell neu eingekleidet, auf Fonty und das pummelige Kind mit der Puppe zu, breitete die Arme wie zum Willkommen und nötigte sein Objekt wortlos, aber mit Fingerzeig an einen der freien Tische. Als sich Agnes zu ihnen setzen wollte, sagte Fonty: »Das geht leider nicht, Kind. Wir haben eine Kleinigkeit zu besprechen …«
    »Weiß schon«, sagte das Mädchen, »das ist nur für Erwachsene bestimmt. Mami sagt immer: So etwas taugt nicht für deine kleinen Ohren, und Papi, wenn er Besuch hat, sagt auch …«
    »Vielleicht später …«
»Ich weiß.«
»Dann erzähl ich dir …«
»Ist schon gut.«
Als beide für sich saßen, sagte Hoftaller: »Da wären wir
    wieder. Wenn das kein Zufall ist?«

    Agnes hatte sich mit der Puppe und ihrem Rucksack einige Tische entfernt gesetzt.
    Den Orangensaft rührte sie nicht an. Ihr Blick und der Blick der Puppe, die sie vor ihrem Bäuchlein hielt, waren von gleichem Blau

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