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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Flughafengebäude, aber die hundert Meter zum Taxistand schaffte er nicht. Im neuen Paletot stand Fonty mit zitternden Knien. Sein Atem pfiff. Die Hände flogen, kaum daß er den Bambusstock halten konnte. Alles an ihm schlotterte. Wer will, mag zweifeln: Hoftaller hat ihn huckepack genommen. Wortlos bot er sich als Packesel an. Dank stämmiger Figur fiel es ihm leicht, Fonty, der in seiner greisenhaften Klapprigkeit nur wenig wog, einfach huckepack zu nehmen. Der Arme hing auf rundem Rücken wie draufgeschnallt. Er saß auf des Trägers rückwärts zum Sitz verschränkten Händen und hielt dessen Brust umklammert. Sein Kopf hing mit verrutschtem Sommerhut über seines Tagundnachtschattens Baseballkappe. die gar nicht zum neuen Flanell passen wollte. Sogar Fontys Wanderstock konnte geborgen werden, irgendwo dazwischengeklemmt. So kamen sie Schritt nach Schritt voran. Der zur Einheit gekoppelte Gegensatz. Lastenträger und Bürde. Ein wandelndes Denkmal ihrer selbst, das einen kompakten Schatten warf. Und zwischen anderen Zuschauern sahen wir, wie sie in Richtung Taxistand voran kamen; was gar nicht lange dauerte, zog sich dennoch eine kleine Ewigkeit hin. Er hat ihn abgeschleppt. »Nein«, sagte Hoftaller, »In Sicherheit bringen mußte ich unseren Freund …«

34 Unter wechselnder Pflege
    Was mit Schüttelfrost begann und während der Taxifahrt quer durch die Stadt sogar den Chauffeur beunruhigte – »Mann, den hat’s aber erwischt« –, dann, nach Stau und Umleitungen, in der Kollwitzstraße von Etage zu Etage für Hoftaller zur Qual wurde, weil Fonty keine zwei Stufen schaffte und ab erstem Treppenabsatz wieder huckepack genommen werden mußte, steigerte sich in der Dreieinhalbzimmerwohnung bei zügellosem Zähneklappern zum Fieberdelirium; nachdem Martha Grundmann und die Nachbarin Scherwinski den Kranken ins Bett gepackt hatten, zeigte das Thermometer 39,9 an. Er fror unterm Federbett, das er immer wieder abwarf. Wie er, so waren auch seine Prothesen nicht zu bändigen: Schnatternd schlugen die künstlichen Zähne aufeinander und mußten ins Glas; dennoch kamen zerstückelte Wortfetzen, Namen durch. Fonty rief nach dem Freund seiner jungen Jahre. Mit Bernhard von Lepel war er auf windgepeitschter Heide in Schottland unterwegs. Dann schien es, als hätten sie sich verirrt, seien in sumpfigen Morast geraten. Hilfe war vonnöten. Er verlangte nach Mathilde von Rohr, seiner für Kümmernisse stets offenen Beichttante, der er nun ruhiger und ohne Zähnegeklapper zuallererst häusliche Mißstimmung, den jüngsten Ehekrach klagte, um dann mümmelnd über Kollegen herzuziehen: wie verknöchert der alt gewordene Lepel sei, daß Heyse in München unter Stoffmangel leide und: »Wildenbruch hat wieder einen furchtbaren Vers gesündigt … Vielen Dank für den auf dem Postweg frischgebliebenen Spargel … Auf Zeitungslöschpapier wird weiter und weiter geschandmault …«
    Fontys Klappern und Zittern ebbte ab. Schließlich – und nun wieder mit seinen Drittzähnen – begrüßte er, wie nach geglückter Landung auf dem Londoner Flughafen, den Brieffreund James Morris, mit dem er sogleich die krisenhafte Weltlage sondierte: »Und was sagen Sie zur Situation auf dem Balkan? Sieht aus, als wollten Kroaten und Serben sich wiederum bis aufs Blut … Der Kaukasus zerfällt, schlimmer, das russische Großreich bricht auseinander, so daß wir uns der zwar schrecklichen, aber gefestigten Zustände werden erinnern müssen, als noch die Sowjetmacht mit starker Hand … Weil nichts hält … Weil die Welt aus den Fugen … Wie nach Tauroggen, als die Zeichen auf Sturm standen … Und aus dem Stechlinsee stieg, kurz vor meinem Abflug, ein Wasserstrahl höher und höher …« Nach zweitem Fiebermessen – nun waren es 40,3 -forderte Martha den Tagundnachtschatten des so erbärmlich daniederliegenden Englandreisenden auf, von der nächsten Telefonzelle aus eine Nummer zu wählen, die sie auf ein eilig abgerissenes Kalenderblatt, mit Datum vom 12. Juni, gekritzelt hatte: »Nun laufen Sie schon. Vom Rumstehen wird’s nicht besser.« Doktor Zöberlein, dessen Poliklinik demnächst abgewickelt werden sollte, der aber den Wuttkes noch immer als Familienarzt galt, kam sofort, wenn man bereit ist, zwei Stunden Wartens bei steigendem Fieber als sofort zu akzeptieren. Ein Blick des gehetzten, aber nie gehetzt wirkenden Arztes genügte: »Kennen wir schon, diese nicht ungefährliche Neigung zur Anämie. Scheint diesmal aber besonders dicke

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