Ein weites Feld
glaubte er, unserer Diskretion sicher sein zu können; zu lange war er dem Archiv verbunden gewesen. Er scherzte sogar angesichts der »kolossalen Modernisierung« und zitierte beim letzten Besuch den alten Stechlin: »Ich kann Telegramms nicht leiden!« Doch dann bat er uns, ihm einige Aufsätze der Jolles, die sich mit den Londonaufenthalten und den Tagebüchern des Unsterblichen befaßten, mit unserem neuen Gerät zu kopieren: »Als Reiselektüre. Kann nicht schaden, meine Dame, meine Herren, wenn man sich selbst auf die Sprünge kommt. Steht sicher furchtbar richtiges Zeug drin, nicht nur, was die Kladden betrifft. Doch bedenken Sie bitte: Niemand geht unschuldig durch dieses Leben. Wie sagt doch Mister Robinson, der englische Kutscher, als er bei einem anderen Kutscher auf Besuch ist: ›Aber widow ist mehr als virgin … Als wir, auf seine Bitte hin, ein Photo von Frau Professor Jolles herausrückten, auf dem sie anläßlich der Gründungsveranstaltung unserer Fördergesellschaft mit beredter Geste am Rednerpult steht, glaubte Fonty, eine gewisse Ähnlichkeit mit Mathilde von Rohr, »meiner alten Brieffreundin«, erkennen zu können: »Schrieb ihr, als ich über den ›Wanderungen‹ saß und mit ganz anders abwegigen Flausen im Kopf unterwegs war, glaube im Juli vierundsiebzig: ›Reise nämlich binnen jetzt und zwei Stunden in einem Segelboot nach Teupitz, zehn Meilen von hier, an Köpenick und Wusterhausen vorbei, immer flußaufwärts. Der Fluß ist die Dahme oder wendische Spree …« Er sagte das wie ein märkisches Gedicht auf, hatte dabei aber ein weit entlegenes Ziel vor Augen.
Von Tegel aus direkt nach Heathrow. Alles klappte wie vorbestellt: Sein Fensterplatz war ihm sicher, er konnte den linken Flügel des Düsenjets sehen. Nach so vielen Reisen per Bahn sein erster Flug. Zwar war der Luftwaffengefreite Theo Wuttke einige Male als eiliger Kurier mit einer Ju 52 nach Paris geflogen oder auf Feldflugplätzen in der Bretagne und Normandie gelandet, aber das zählte nicht. Kein Wuttke mehr, Fonty genannt, saß angeschnallt, vielmehr erwartete der Unsterbliche den Start, diese Beschleunigung, dieses Abheben … Leicht zitterten die Flusen des Schnauzbarts.
Es dauerte, bis alle Passagiere ihren Platz gefunden, das Handgepäck verstaut hatten. Die BA-Maschine war ausgebucht. In den Reihen vor und hinter ihm und auf der anderen Seite des Ganges saßen sie dicht bei dicht. Soweit er sehen konnte, hätte niemand in letzter Minute einen noch freien Platz erwischen können. In der Reihe vor ihm saß ein Sikh, am hochgebundenen Turban zu erkennen, neben Fonty ein Mädchen mit Puppe auf dem Schoß, das offenbar allein reiste, denn die Frau neben dem Kind blätterte in einem Reisejournal und hatte keinen Blick und kein Wort für die pummelige Schönheit an ihrer Seite.
Nach Anweisung der Stewardeß saßen nun alle angeschnallt. Das übrigens rosthaarige Mädchen hatte sogar seine Puppe, die langbeinig schlank war, hinter den Sicherheitsgurt gezwängt. Jetzt hätte sich die Maschine lösen und in Richtung Startbahn rollen können. Was im Notfall zu tun sei, erklärte – unter zweisprachiger Ansage über den Bordlautsprecher – die Stewardeß, indem sie jeden Rettungsgriff pantomimisch andeutete. Jetzt schwebte sie mit kontrollierendem Lächeln durch den Mittelgang, warf dem alleinreisenden Kind ein aufmunterndes »Hallo« zu, ging mit federndem Schritt bis zum Vorhang, der die erste Klasse von der Touristenklasse trennte, setzte sich und schnallte sich gleichfalls an. Fonty hatte beide Hände auf den Knien. Da sagte das Kind: »Du zitterst ja, Opa. Hast du Angst?«
»Nun ja, ich fliege zum ersten Mal.«
»Mir macht das nichts, weil ich ziemlich oft übers
Wochenende nach London muß.«
»Dann willst du vielleicht später Stewardeß werden …« »Ach was. Wäre mir viel zu langweilig. Leider muß ich
so oft hin und her fliegen, weil Mami und Papi getrennt leben, weißt du. Ist auch besser so. Sie haben sich wirklich nicht mehr verstanden, immer nur Streit.«
»Und dein Papi lebt und arbeitet nun in London? Auch ich hatte dort zeitweilig – lang ist’s her – meinen Arbeitsplatz und bin später sogar nach Schottland …«
»Nicht Papi, Mami ist abgehauen und hat jetzt mit ihrer Freundin, die heißt Mary-Lou, eine wirklich schicke Boutique aufgemacht, ziemlich nah bei der Portobello Road. Läuft ganz gut für den Anfang, sagt Mami. Aber richtig leben tu ich bei meinem Papi, ist besser so.«
»Das ist
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