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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Zahlungsverkehr. Keine Konsumgüter standen auf seiner Liste. Leicht konnte er der schönsten Westverpackung den inbegriffenen Schwindel ablesen, und doch forderten auch seine Pläne ihren marktorientierten Preis. Für Fonty, wie der Aktenbote Wuttke genannt wurde, hatte verdientes Geld über Jahre hinweg für das begrenzte Angebot von Ostprodukten gereicht und ihm sogar Ersparnisse erlaubt. Jetzt durfte er bis zur Höhe von sechs tausend Mark mit einem Umtausch von eins zu eins rechnen: Was darüber zählte - Fonty hatte seit Kulturbundzeiten alles Ersparte im gelben Postsparbuch angesammelt –, war nur noch die Hälfte wert. Gleiches galt für des Aktenboten Frau und Tochter. Von Emmi Wuttkes Rente und Martha Wuttkes Lehrerinnengehalt hatte immer ein Notgroschen abgezweigt werden können. Weil aber der günstige Umtausch ausschließlich für Personen über dem sechzigsten Lebensjahr galt, rechnete sich diese Einschränkung für Martha, die achtunddreißig zählte, schlecht; ihr standen, laut Vorschrift, viertausend Mark eins zu eins und vom größeren Rest nur die Hälfte zu. Das schmerzte die Tochter des Aktenboten. Sie wollte demnächst heiraten und hatte ihrer Hochzeitsausstattung wegen einen Besuch im Kaufhaus des Westens, dem legendären KaDeWe, geplant. Ähnliches wünschte Emmi. Keinesfalls wollte sie ihre Tochter, wie sie gesagt haben soll, »in Ostklamotten vorm Altar sehn«. Frau Wuttke hatte feste Vorstellungen: »Man heiratet ja nich alle Tage. Wenn schon, denn schon …« Nur Fonty fand an seiner seit Jahren getragenen Garderobe Genüge: In schwarzgrau gestreifter Hose und in einem Jackett, das wir Bratenrock nannten, war er bei feierlichen Anlässen aufgetreten, zuletzt, als ihm für seine Bemühungen um das kulturelle Erbe die silberne Verdienstnadel angesteckt wurde. Verständlich, daß der Aktenbote Theo Wuttke nicht vorhatte, sich im Kaufhaus des Westens neu einzukleiden; vielmehr zielte sein Wunsch auf ein Reiseticket: Bis Hamburg wollte er die Reichsbahn und von dort aus das Fährschiff nach England nehmen.
    Ihm stand eine Märchenreise offen, doch hatte er keine Eile. Nicht am ersten Umtauschtag, einem Montag, als nach Mitternacht überall und besonders auf dem Alexanderplatz das neue Geld mit Hupkonzerten, Böllerschüssen und vielchörigem Jubel begrüßt wurde, wobei die Scheiben einer Bank in Scherben gingen und ältere Personen im allgemeinen Gedränge in Ohnmacht fielen, sondern erst eine Woche später, am g. Juli, stellte sich Fonty in der Schönhauser Allee ans Ende einer mäßig langen Schlange; war dies doch der Tag, von dem an über das gesamte Konto verfügt werden durfte. Zuvor war jeweils nur der Umtausch von zweitausend Mark zugelassen gewesen. Das hatten alle, die dort standen, während jahrzehntelanger Mangelwirtschaft gelernt: Schlangestehen. In den fünfziger Jahren nach allem und besonders nach Kartoffeln, in den Sechzigern nach Fahrradschläuchen, Frischgemüse, Perlonstrümpfen und später nach Zitronen und Apfelsinen. Schlangestehen war zur eingeübten Haltung eines Volkes geworden, das sich Zeit nahm - wo sie nur greifbar war. Deshalb rückte niemand dem Sparkassenschalter in Ungeduld näher. Emmi und Martha Wuttke hatten schon vorher ihre Konten erleichtert, ohne die Möglichkeit des günstigen Umtauschs sogleich ausschöpfen zu können. Danach war der Besuch im KaDeWe fällig gewesen, wo ihnen alle Abteilungen Angebote machten. Lange zögerten beide angesichts glitzernder Niedlichkeiten und solider Eleganz; und doch sollen sie sich an Emmis Weisung »Nur nichts Unnötiges anschaffen« gehalten haben: Außer der Hochzeitsgarderobe gingen nur zwei Luxusartikel ins Geld, für Martha eine schicke Handtasche italienischer Machart, für Emmi ein Flakon »echt Kölnisch Wasser«. Hinterher hieß es: »Also, wenn man nicht aufpaßt, wird man die Westmark ziemlich schnell los.« Fonty stand sommerlich gekleidet in der Schlange. Er hatte einen Schein bei sich, auf dem jene Summe amtlich beglaubigt war, die sein gelbes Postsparbuch hergab.
    Anfangs wollte er noch hören, was die Schlange vor und hinter ihm laut zu sagen oder, wie gewohnt, zu flüstern hatte, doch dann verlor er sich in immer neuen Kopfrechnungen, die seiner geplanten Reise einen strengen Sparkurs vorschrieben das Gerede vor und hinter ihm war wie auf halblaut bis null gestellt. Dieses Gejammer kannte er ohnehin, kaum unterschied es sich von dem, was er täglich zu Hause hörte: tausend Wünsche zwischen

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