Ein weites Feld
zaunhohen Bedenken. Mal sollte es eine japanische HiFi-Anlage, dann wieder ein fast neuer Opel Kadett für Martha sein, die aber, weil ohne Führerschein, abwinkte. Er hatte Mühe, Emmi ihren Herzenswunsch, »einen Westfernseher mit allem Drum und Dran«, auszureden: »Ging doch bis jetzt ohne Glotze. Kann mir gestohlen bleiben, dieser Bildersegen. Was soll der Unsinn: das schottische Hochland im Guckkastenformat!« Und wie in der Kollwitzstraße blieb er beim Schlangestehen seinem Reiseziel treu. Vor und hinter ihm waren alle schwankend und bänglich. Er aber wollte waghalsig sein und nicht jetzt schon verzagt wie die alleinerziehende Mutter mit Kleinkind an der Hand, die vor ihm in der Schlange stand. Mit vielen fürchtete sie die neue Währung, weil sich deren Härte zuallererst gegen jene wenden könnte, die das Wunschgeld so laut herbeigesehnt hatten: »Na ja, man wünscht sich was, doch wenn es denn kommt, is man verdattert, weil man sich jottwasnichalles vorjestellt hat.« Doch selbst wenn Theo Wuttke als Aktenbote diese Ängste geteilt hätte, Fonty wäre furchtlos geblieben. Er war bereit, alles auf eine Karte zu setzen, und sah sich schon unterwegs. Er wollte nicht mitlachen, als jemand hinter ihm Witze über die Parteibonzen in Wandlitz riß. Er zog es vor, in Gedanken immer wieder an Bord zu gehen: Vor Jahren hatte das weiße Fährschiff nach Harwich »Prinz Hamlet« geheißen; nun hieß sein Schiff, laut Reiseprospekt, »Stadt Hamburg« und sollte an den Landungsbrücken in St. Pauli ablegen. Immer neue Witze ödeten ihn an. Weit hinten in der Schlange wollte jemand aufgesparte Wut loswerden und zählte Stasiseilschaften auf, die er überall, aber besonders steiglustig und alpin ausgerüstet im Haus der Ministerien tätig sah. Jedenfalls war in einem Westberliner Reisebüro für Fonty vorsorglich ein Schiffsplatz auf seinen bürgerlichen Namen gebucht worden; Englandreisen waren beliebt. Gleich hinter ihm wollte ein bärtiger junger Mann, der sich bis dahin maulfaul verhalten hatte, plötzlich von dem noch immer krakeelenden Stasiankläger wissen, zu welcher Seilschaft denn er gehöre: »Is doch ne altbekannte Masche. Laut wird auf die Firma geschimpft, von der man bezahlt wird!« Danach schwieg er muffig. Dem Witzeerzähler gingen die Witze aus. Die Mutter mit Kleinkind hörte zu jammern auf Niemand wollte mehr Sätze mit »man« bilden: Man hat uns gesagt … Man glaubte und glaubte … Man ist ja gewohnt … Man hat ja nicht ahnen können … Man ist ja doch immer der Dumme am Ende … Bei lastender Sommerhitze wußte die Schlange vor der Sparkassenfiliale nichts mehr zu sagen. Nur Fonty war reich an inwendiger Rede. Er litt nicht unter dem feuchtheißen Wetter. Zum Strohhut trug er einen leichten, oft gewaschenen Leinenanzug, dessen Knitterfalten wie angeboren waren und doch für lässige Weltläufigkeit bürgten. Ohne Wanderstock, aber mit gemustertem Shawl kam er langsam voran, während seine Gedanken rückläufig Halt suchten. Wo immer er sein Gedächtnis anzapfte, sprudelten sogleich die Quellen seiner Ersparnisse. Landesweit klapperte er Städte und Städtchen mit schütteren oder pompösen Kulturbundhäusern ab. Aus allen Vorträgen, die er seit Anfang der fünfziger Jahre und bis gegen Ende 76 gehalten hatte, zog er die Summe, minderte sie um die Kosten fürs tägliche Leben und kam dennoch auf einen satten Überschuß; denn außer den nicht gerade üppigen Honoraren, die der Kulturbund zwischen Stralsund und Karl-Marx-Stadt gezahlt hatte, waren ihm immer wieder Prämien für besondere Leistungen zugute gekommen: Der Vortragsreisende Theo Wuttke galt als Kulturaktivist. Zwar hatte er nie ein Massenpublikum anziehen können, doch einer treuen und im Verlauf der Jahre nachwachsenden Zuhörergemeinde durfte Fonty sicher sein. Überall versammelten sich Heimat- und Naturfreunde, die für seine aufs Witzigste verkürzten »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« ein offenes Ohr hatten; genügend Geduldige fanden sich, denen selbst vielstrophige Balladen nicht zu lang waren; allerorts gab es auf Pointen erpichte Liebhaber der vieltausend hingeplauderten Plauderbriefe; und immer ging es um das Werk des Unsterblichen. Mal waren dessen Romane – ob »Frau Jenny Treibel« oder »Unwiederbringlich« Thema, bei anderen Vortragsreisen herrschten Frauen vor, die, mal zum klagenden, mal zum räsonierenden Chor zusammengerottet, in den Vordergrund drängten: Cécile neben Effi, Ebba Arm in Arm mit Melanie,
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