Ein weites Feld
›Vor dem Sturm‹ von der Hand gegangen. Danach Buch auf Buch bis zum ›Stechlin‹. Und hätte mir der Tod nicht die Lampe ausgeblasen …« Unruhig tasteten die Hände der Greisin die Lederschuppen ab. »Aber angestoßen hat mich der alte Marwitz. Jawohl, meine hochbegabten, doch ahnungslosen Freunde. Ein Preuße bester Prägung. Immer frei raus. Und immer quer zum höfischen Klimbim. Wie ich auch Ihnen rate, dem lärmenden Zeitgeist offenen Auges zu widerstehn …« Und kamen nicht zur Ruhe, die Hände auf dem geschuppten Leder, tasteten ab, streichelten etwas Lebendiges … Ferner steckte in der Plastiktüte ein zeitgenössischer Reiseführer, der ihm Auskunft über Hotelpreise, Verkehrsverbindungen und die Öffnungszeiten der Museen und Schlösser mitteilte. Nur um sich von der gegenübersitzenden alten Frau mit der Tasche auf dem Schoß abzulenken, blätterte er kurz in dem reichbebilderten Paperback, saß dann wieder aufrecht und ruhig, bis auf die zitternden Bartspitzen.
Sicher, alles bei sich zu haben, besonders einen frisch ausgestellten Reisepaß, der ihn als Bundesbürger auswies, zeigte Fonty jene teils heitere, teils nur zur Schau gestellte Entschlossenheit, die viele Zeitzeugen dem Unsterblichen nachgesagt haben. Und so sahen auch wir vom Archiv ihn: allzeit zum Aufbruch bereit. Selbst seine Nervenpleiten nahm er mit, bis hin zu den Kriegsschauplätzen, nach Düppel, Königgrätz, Metz. Und ähnlich leichtsinnig und nervös wird sich der Gefreite und Kriegsberichterstatter Theo Wuttke auf den Weg nach Frankreich gemacht haben: schnell abgelenkt, weil offenen Auges, und schnell verführt, weil augenblicklich eingeholt von Grabinschriften, Immortellenkränzen und anderen Leitmotiven: Effis Furcht vor dem Chinesengrab und dem schwarzen Huhn der Frau Kruse: »Vor dem hüte dich, das weiß alles und plaudert alles aus …« Fonty saß jetzt zurückgelehnt mit geschlossenen Augen. Ihm gegenüber die gestreichelte Reisetasche. Das Abteil wie beheizt, überheizt. Stickige Julihitze, die mitreisen wollte. Als der Zug abfuhr, wurde, kaum daß er in schnellere Fahrt kam, die Abteiltür aufgerissen: Keuchend und durchgeschwitzt stemmte der zugestiegene Fahrgast seinen Koffer auf die Gepäckablage und warf sich auf den Sitz neben Fonty. »Grad noch erwischt!« rief er zur Begrüßung. »Fuhr schon an, mußte aufspringen!« Sogleich riß er sich die amerikanische Kappe vom Kopf und wischte mit dem Handrücken die triefende Stirn, die schweißverklebten Haarspieße. Fonty hatte die Augen nicht öffnen müssen. Was nun kam, wollte er blindlings hinnehmen.
Wir vom Archiv zweifeln an der beteuerten Gewaltlosigkeit der weiteren Vorgänge. Doch da uns gegenüber von einer »eher sachlichen Übereinkunft« gesprochen wurde, kommt unserem Zweifel nur das Gewicht einer Nebenbemerkung zu. Soviel steht fest: Kaum begonnen, war das Märchen schon aus. Nach nächstem Halt Bahnhof Zoologischer Garten – fuhr der Zug ohne sie weiter. Selbst wenn keine Gewalt angewandt wurde, muß doch ein gewisser Zwang nachgeholfen haben. Hoftallers Darstellung, Fonty habe aus freien Stücken aufgegeben, sagt alles. Angeblich hätten wenige Worte genügt. Ausreichend sei der Hinweis gewesen, man werde entweder gemeinsam nach Hamburg fahren, gemeinsam das Fährschiff nach England nehmen und gemeinsam, wie einst der Unsterbliche mit dem Jugendfreund Lepel, London besichtigen und Schottland bereisen – »Dort werden wir fischen und jagen froh« –, oder man werde zu zweit aussteigen, zu zweit ein erfrischendes Bier trinken und so, »nach sachlicher Übereinkunft«, diesen unnützen und zudem kostspieligen Ausflug abbrechen.
Er sagte zu uns: »Eigentlich hätten Sie ihm diesen Unsinn ausreden sollen. Bestimmt war das Archiv an den Reisevorbereitungen beteiligt. Ziemlich unverantwortlich, einem alten Mann solch ne Strapaze zuzumuten. Aber jetzt herrscht ja Freiheit, nicht wahr? Narrenfreiheit!« Erst nachdem er uns »passive Mittäterschaft« vorgeworfen und dem Archiv »wenig angenehme Konsequenzen« in Aussicht gestellt hatte, nahm er den anklagenden Ton zurück: »Na ja. Schwamm drüber. Habe lange gut zureden müssen. Da mich unser Freund nicht als Reisebegleiter akzeptieren wollte, waren weitere Argumente überflüssig. Habe ihn dennoch auf das Unverantwortliche seines klammheimlichen Abgangs aufmerksam gemacht. Benutzte sogar den Ausdruck ›verduften‹. Sagte ihm wiederholt: ›Sie können doch nicht einfach verduften, Fonty!‹ Und
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