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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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eben nicht an alles … Soll ich etwa vor diesem Kant, der nur zufällig so ehrenhaft heißt, katzbuckeln? Oder dieses Amt, trotz Krach mit Hitzig … Nein! Außerdem ist eine Fülle neuer Arbeit angefangen …« Jetzt erst, als habe er sich selbst einen Befehl zugerufen, schlug Fonty die Augen auf, die aber nicht wie üblich wäßrig schimmerten, sondern trocken und fiebrig glänzten. Er sah sich um. »Was gibt’s, Hoftaller?« Kaum aufgetaucht, war er gegenwärtig. Er griff sich in den Mund, fingerte seine Prothesen ab, war zufrieden und hatte sogar Scherze parat: »Keine Zigarre mehr im Gesicht? Ohne Nachschub aus Kuba? Oder ist etwa der Paternoster zum Stillstand gekommen? Rumpelt nicht mehr rauf runter. Und wie ist die Aktenlage? Fehlt was? Oder klappt es nicht mit der Einheit, ruckzuck, wie gewünscht?«
    Hoftaller nahm sein Lächeln nur vorläufig zurück. Mit dem länglichen Päckchen auf den Knien, berichtete er dem Kranken Alltäglichkeiten: wie rasch sich das neue Geld verbrauche, wie zupackend der Westen um sich greife, wie zügig »der Mann mit den Ohren« die Vierpluszweigespräche vorantreibe; wie rechtzeitig man am Runden Tisch beschlossen habe, eine Treuhandanstalt zu gründen: »Na ja, für das Volkseigentum!« Doch wie mit den Akten in der Normannenstraße umgegangen werden solle, wisse man nicht. Das aber sei nicht seine Sorge. Ihm gehe es bestens. An Zigarren vorerst kein Mangel. Und da der Westen an Personen mit zeitlos übergreifender Erfahrung Interesse zeige, falle tagtäglich neue Arbeit an: »Die Kollegen von drüben brauchen Leute mit Durchblick.« Und dann breitete Hoftaller einige Fälle aus: kleine Fische vom Prenzlauer Berg, Lychener Straße, den sozialdemokratischen Fall Ibrahim Böhme; und den noch bevorstehenden Fall eines musikalischen Rechtsanwalts, der Ministerpräsident wurde und den Fonty einen »verspäteten Calvinisten« genannt habe. »Gibt ne Menge Vermutungen, die man zum gegebenen Zeitpunkt bis zur Tatsächlichkeit erhärten muß. Wird vorläufig noch geschont, weil ihn der Kanzler demnächst für Unterschriften benötigt. Aber dann ist er dran. Wir leben nun mal in ner schnellebigen Zeit. Wer da zu lange das Bett hütet, der wird sich verspäten. Sie wissen ja, Fonty, wer solche Verspätung bestraft. Nun? Immer noch nervlich am Ende? Oder wollen wir langsam wieder gesund werden?« Als der Kranke mit einem Lächeln, das wie endgültig auf Abschied gestimmt war, antwortete und dabei die Hände ein wenig von der Bettdecke hob, um sie sogleich wieder sinken zu lassen, holte Hoftaller aus vielstöckig tiefem Gedächtnis Trost und guten Rat herbei: »Bin ja kein Unmensch und will nicht drängeln. Ahne, wie Ihnen zumute sein muß. Weiß ja, daß schlecht scherzen ist, wenn einen das Gastritisch-Nervöse gepackt hat: Jeder Vogel krächzt nur noch Mißgeschick, an allem knabbern die Mäuse, in jedes Wässerchen münden Abflußkanäle. Und doch, Fonty, muß es weitergehn. Sind doch sonst fürs Positive! Sind doch immer wieder, ob zu Zeiten des Schwefelgelben oder zur Zeit des sächsischen Spitzbartes, auf die Beine gekommen. Und hat nicht dazumal der Hausarzt dem Unsterblichen, der aufgeben wollte, dem seine Effi entschwunden und alle Romanschreiberei nichtsnutz zu sein schien, nen prima Rat gegeben und ihn, den Dauerkranken, sozusagen am Hemdzipfel gepackt und mit nein anspornenden Auftrag aus dem Bett getrieben? Wie wär’s, wenn ich mal den Onkel Doktor spiele. Kleiner Vorschlag: Sie bringen Ihre Kinderjahre, von mir aus in gedoppelter Ausführung, zu Papier; und ich sorge für Publikum. Könnte ein längerer Vortrag werden. Gibt ja noch immer ne Menge Kulturbundhäuser, die belebt werden wollen, bevor man sie schließen wird. Muß ja nicht hier in Berlin sein. Könnte mir Potsdam, Neuruppin oder sogar Schwerin vorstellen, wo demnächst das Fräulein Tochter als Frau Grundmann Wohnung beziehen will, Seelage, beste Adresse. Also, wie heißt Ihre Devise: Freiweg! Am besten ist, morgen gleich anfangen. Wir wollen doch nicht schlappmachen, oder?«
    Fonty sagte uns später, Hoftaller habe gegen Schluß seines Appells stehend gesprochen, dann aber, nach letztem Wort, sein Mitbringsel ausgepackt. Das längliche Päckchen enthielt ein Dutzend grün lackierte FaberCastell-Bleistifte und einen Anspitzer. Sogleich begann Fonty auf der Bettdecke mit den Stiften zu spielen. Er legte sie in Reih und Glied wie Soldaten. Aus zwölf Grünlackierten formierte er vier Kompanien. Er bildete

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