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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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hätte tot sein können, so abwesend sah er aus.« Selbst als Hoftaller einen Stuhl heranzog und sich neben das Bett setzte, blieben die tief eingefallenen Augen geschlossen. Der Ausdruck des Kranken war so beständig, daß jemand mit zeichnerischem Können und schneller Kreide – der Maler Max Liebermann – mehrere Skizzen hätte hinwerfen können, zumal die Hände des Scheintoten wie auf immer zur Ruhe gekommen waren: Knochig lagen sie auf der Bettdecke, selbst der Ringfinger wollte nicht zucken. Dennoch schien Fonty sicher zu sein, daß ihn sein Tagundnachtschatten besuchte. Ohne sich einen Augenblick lang vergewissern zu müssen, sagte er mit matter, leicht zitternder Stimme: »Diese Hitze, Tallhover. Sollten endlich Ferien machen. Gehen wohl nie in die Sommerfrische? Hab ich schon immer gesagt: Den Juli, August über soll man raus aus Berlin. Wir waren ja diesmal im Riesengebirge, hat aber nichts gebracht, die andere Luft. Half sonst gegen deprimierte Stimmung, jedenfalls manchmal. Nun soll ich ab in die Nervenabteilung, hat Delhaes geraten. Dagegen müssen Sie was tun, Hoftaller, Einspruch, sofort, denn dieser Arzt aus der Poliklinik, Zöberlein heißt er, der wollte mich auch partout weghaben: ab nach Buch in die Anstalt. Will aber nicht. Besser hier rumbibbern als da ruhiggespritzt liegen. Außerdem ist zuviel unfertig. Muß nochmal an Effi ran und Kessin, was ja Swinemünde ist: das Bollwerk, das himmelblau angestrichene Haus, mein Versteck unterm Dach im Holzgebälk, wo mich keiner je aufgestöbert hat, auch die Jungs aus der Nachbarschaft nicht. Hör noch, wie Vater am Sonntag, wenn Besuch da ist, mit seinen Gasconnaden brilliert, so daß Mama sich wieder mal schämen muß …« Hoftaller hörte mit seitlich geneigtem Kopf zu. Sein Lächeln hatte er mitgebracht, dazu ein Päckchen, das er unausgepackt auf den Knien hielt. Eine Weile schwieg Fonty bei geschlossenen Augen, dann kam er wieder ins fiebrige Plaudern. Verkettete Namen, Preußens Adel, immer wieder die Bredows, längst vergessene Tunnelbrüder, Hesekiel, Scherenberg, Kugler, siegreiche Regimenter bei Gravelotte und Mars-la-Tour, oder es mischten sich Nachwahlen zum Reichstag -»Der Feilenhauer Torgelow siegt!« – mit Volkskammerwahlen – »Diese ledernen neunundneunzig Prozent!« – und achtundvierziger Barrikadenlyrik: »Viel Geschrei und wenig Wolle!« All das ging kommalos in AlexanderplatzReden über: »Nur der Feigling ist immer ein Held. Doch selbst die tapfersten aller Genossen machen heut Zugeständnisse: Die Bürger kommen! Die Bürger kommen! Sie werden den Arbeiter- und Bauern-Staat retten …« Dann aber verlor er sich in einem Lamento, das ihn zum wiederholten Mal als ständigen Sekretär der Akademie der Künste vorführte. Zwar war nur Hoftaller da, doch meinte Fonty, seine Beichtmutter und Brieffreundin Mathilde von Rohr am Krankenbett zu haben: »Sehe mich in beklagenswertem Zustand. Bin jetzt dreieinhalb Monate im Dienst. Habe in dieser ganzen Zeit auch nicht eine Freude erlebt. Alles verdrießt mich. Alles verstimmt mich. Alles ekelt mich an. Fühle deutlich, daß ich gemütskrank, schwermütig werde. Habe furchtbare Zeiten durchgemacht, namentlich in meinem Hause. Meine Frau ist tiefunglücklich, und von ihrem Standpunkte aus hat sie recht. Andererseits soll mir die Akademie … Dann besser doch Aktenbote im Haus der Ministerien … Dieser Lump Hitzig … Neulich mit ihm im Paternoster …« Er brach ab. Die Augäpfel unruhig unter geschlossenen Lidern. Der zuckende, vom Schnauzbart überfusselte Mund. Adern, die an den Schläfen hervortraten. Dann aber begann er, weil Hoftaller sich lächelnd still verhielt, so zu reden, als säße Emilie, die geborene Rouanet-Kummer, am Krankenbett und müsse beschwichtigt werden: »Was soll das heißen: ›So habe ich mir unsere Zukunft gedacht!‹ Nur weil bei deiner Schwester zwei Flaschen Medoc à zwölf Silbergroschen auf den Tisch gekommen sind? Und machst dazu ein böses Gesicht, weil ich zu Preußens Akademie Lebewohl gesagt habe und den Moment ersehne, wo ich aus diesem wichtigtuerischen Nichts, das mit Feierlichkeit bekleidet ist, wieder heraus sein werde? Du sagst, die Welt verlangt nun mal ihre Götzen. Meinetwegen, wenn ich nur nicht mit anbeten brauche. Will nicht nach jeder Geheimratspfeife … Ist mir egal, wie das Parteikollektiv beschließt … Fahre wohl, Sekretariat! Muß auch ohne die Plackerei beim Kulturbund gehn … Requiescat in pace! Der Mensch gewöhnt sich

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