Ein weites Feld
munter, unser Sorgenkind, nicht wahr? Doch nun will ich nicht länger stören.«
Anderntags saß Fonty am Schreibtisch. Er wollte die neuen Stifte ausprobieren, eine knappe Stunde lang nur. Danach füllte er Blatt nach Blatt, Tag um Tag. Ein aus Militärdecken genähter, seit Kriegsende verfilzter Morgenmantel von unbestimmter Farbe kleidete ihn. Er schrieb über des Meisters Stil, über das Dialogische und die anekdotische Kleinmalerei, über raffinierte Aussparungseffekte und dann über die konsequent durchgeführte Erzählhaltung, belegt mit betont englischem, auf Scott oder Thackeray zurückweisendem Zitat: »To begin with the beginning.« Danach kam er auf das Motto des seine Kinderjahre ausbreitenden Unsterblichen: »… in den ersten Lebensjahren steckt alles …« und fand so Gelegenheit, seine frühe Neuruppiner Zeit, als Sohn des Steindruckers Max Wuttke, mit der hundert Jahre zuvor durchlebten Zeitweil seines Vorgängers, dessen Vater Apotheker gewesen war, zu vergleichen und bald so übergangslos zu vermischen, daß wir vom Archiv Mühe gehabt hätten, überall dort das Original vom Abklatsch zu trennen, wo Fonty mit zwei Spiegeln zugleich hantiert hat. Anfangs ging es noch. Der Apotheker Louis Henri und dessen Frau Emilie, die gerne betont hat, Tochter eines Seidenfabrikanten namens Labry gewesen zu sein, hoben sich, dank ihrer hugenottischen Herkunft, deutlich von der Wuttkeschen Stammlinie ab, die eher in Richtung germanisiertes Westpreußen wies; doch immerhin hieß Fontys Mutter Luise, genannt nach jener Königin, bei der des Apothekers Vater, Pierre Barthélemy, anfangs als Zeichenlehrer und später im Rang eines Kabinettsekretärs tätig gewesen war, wobei er allerdings den Spott des Bildhauers Schadow provoziert hat: »Er malt schlecht, spricht aber gut französisch.«
Zwar war Luise Wuttke eine geborene Fraissenet, was immerhin hugenottisch klang, dennoch blieb im Herkommen der Wuttkes einiges dunkel, denn väterlich großmütterlicherseits verlief sich eine Linie im Sächsischen. Bald aber gelang es, ein gemeinsames, zudem farbgesättigtes Feld abzustecken, auf dem Fonty in jeder Richtung zu Hause war. Da schon den Unsterblichen während früher Kindheit die weit verbreiteten »Neuruppiner Bilderbögen« geprägt hatten und der Steindrucker Max Wuttke in Gustav Kühns Werkstatt immer noch jene Blätter von Solnhofer Steinplatten abzog, die bereits vor hundert Jahren im Handel gewesen waren, lagen weitere Möglichkeiten offen, mit eiligem Blei die Zeit aufzuheben und eine Neuruppiner Spezialität mit Anekdoten anzureichern: Kinderarbeit in Kolorierstuben, Lithographengeheimnisse, Bilderbogengeschichten. Überhaupt reizte das Städtchen im Ruppiner Land zu Vergleichen. Wie sah es hier zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nach dem großen Brand aus und wie in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, das demnächst ausläuft? Die Garnisonstadt bot mit traditionellen Regimentern und weitläufigen Kasernenanlagen von Krieg zu Krieg fließende Übergänge bis hin zur Reichswehr und dem Panzerregiment Nr. 6. Auch hatten die Schinkelkirche und das zentral gelegene Gymnasium die Zeit überdauert. Nahezu unverändert war der See geblieben, an dessen Ufer sich Neuruppin, schräg gegenüber von Altruppin, hinstreckte und auf dessen Wasser ein Dampfer bereits im Jahr 1904 den Namen des Unsterblichen zu weitentlegenen Ausflugszielen getragen hatte: durch den Lauf des Rhin zum Molchow-und Tornowsee. Wie von einer holsteinischen, mecklenburgischen oder kaschubischen Schweiz konnte man, was die Seenkette betraf, von einer Ruppiner Schweiz schwärmen. Fonty genoß es, die Gerüche der väterlichen Löwenapotheke in der Friedrich-Wilhelm-Straße, die später auf unbestimmte Zeit Karl-Marx-Straße heißen sollte, mit den Gerüchen des väterlichen Arbeitsplatzes in der Kühnschen Lithographiewerkstatt zu mischen: Salmiak und Gummi arabicum, Lebertran und Druckerschwärze. Mit neuem, immer wieder nachgespitztem Bleistift ließ er den einen wie den anderen Vater aus jeweils großen Kriegen, dem befreienden gegen Napoleon, dem gegen die ganze Welt verlorenen, heimkehren, auf daß sie, kaum abgemustert, heirateten und Söhne zeugten, die am gleichen Tag ans Licht kamen, wenngleich in hundertjähriger Distanz. Spielte sich das Vorleben des einen Sohnes in einer geräumigen Beletage-Wohnung nahe dem Rheinsberger Tor ab, blieb im engen Arbeiterquartier Ecke Fischbänkenstraße, Siechenstraße für den nachgeborenen
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