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Ein wilder und einsamer Ort

Ein wilder und einsamer Ort

Titel: Ein wilder und einsamer Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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sich jäh, und der
Schreck, der darin stand, verwandelte sich in lodernde Wut. Sie fixierte mich
einen Moment, ehe sie sich an Latif wandte: »Khalil, bitte sagen Sie Aisha, sie
soll Mavis’ und Habibas Sachen packen. Erklären Sie ihr, daß sie mitgehen muß.
Sie sollen in fünfzehn Minuten abfahrtbereit sein.«
    Latif eilte hinaus, ein verschlagenes
Lächeln um die Lippen.
    Mrs. Hamid sah ihm nach — vermerkte
dieses Lächeln auf einem mentalen Konto. Als sie sich mir wieder zuwandte, war
ihr Gesicht beherrscht. »Sie werden in der Empfangshalle auf sie warten. Kommen
Sie nicht wieder hierher. Alle weiteren Vorgänge zwischen meinem Land und RKI
werden kurzer und abschließender Art sein.« Ich nickte höflich und ging hinaus
in die Empfangsdiele, wo ich mich auf einer kleinen samtgepolsterten Bank
niederließ. Zehn Minuten vergingen. Fünfzehn. Zwanzig. Als ich gerade
ungeduldig wurde, kam eine grauhaarige Frau in weißer Arbeitsuniform die breite
Treppe heruntergeeilt, gefolgt von Latif.
    Habiba sei nirgends zu finden,
erklärten sie mir. Und ihre Mutter sei ebenfalls verschwunden.
     
     
     
     

10
    Plötzlich war die Empfangsdiele voller
Menschen. Die meisten schrien durcheinander. Ich blieb auf meiner Bank sitzen,
sah zu, wie der RKI-Einsatzteamleiter die Ordnung wiederherzustellen suchte,
und wartete auf Malika Hamids Auftritt. Die Tür der Bibliothek blieb zu, und
nach einem Weilchen ging Khalil Latif hinein.
    Seltsam.
    Niemand achtete auf mich, also
verdrückte ich mich den Flur hinunter. Vorbei an Türbogen, hinter denen
offizielle Räume lagen, gelangte ich zu einer Schwingtür, die in den
Wirtschaftsbereich führte. Ich schlüpfte an der Waschküche und dem Vorratsraum
vorbei und nahm die Hintertreppe hinauf ins Obergeschoß.
    Die Tür zu Mavis’ Zimmer stand offen.
Ich trat ein und ließ meinen Blick über das Chaos schweifen. Ich sah eine
umgekippte Wodkaflasche in einer klaren Pfütze auf einem Beistelltischchen; ein
Glas und eine Lampe lagen zertrümmert auf dem Fußboden. Mavis, in einem Tobsuchtsanfall,
oder eine gewaltsame Entführung? Schwer zu sagen.
    Ich ging rasch wieder hinaus auf den
Flur und schlich weiter, öffnete eine Tür nach der anderen, bis ich zu einem
gelb-weißen Kinderzimmer gelangte. Habibas Zimmer war genauso kitschig überladen
wie das ihrer Mutter: Himmelbett, Toilettentisch mit Rüschenvolant,
Organdy-Vorhänge, Reproduktionen von Degas-Ballerinas. In einem Bücherregal
saßen Dutzende fadgesichtiger Puppen, die aussahen, als hätte nie jemand mit
ihnen gespielt; das Bett war mit hyperniedlichen Stofftieren überhäuft. Ich
hätte den pathologisch ordentlichen Raum für unbewohnt gehalten — ein
Erinnerungsschrein für ein längst erwachsenes kleines Mädchen oder etwas in der
Art —, wäre da nicht die Fensternische gewesen.
    Ein Wall von Bücherstapeln zog sich um
den Fenstersitz, als hätte sich Habiba dort verschanzt. Ich ging hinüber und
inspizierte ihren Lesestoff: ein paar Schulbücher mit dem Stempel einer
exklusiven Privatschule, die in der Nähe lag; ein paar Kleinmädchenbücher. Aber
das meiste waren Erwachsenen-Sachbücher über verschiedenste Themen, von
Ozeanographie über Ökologie bis zu Naturgeschichte. Daneben lagen Landkarten
und ein Stapel Puzzles, die Szenen aus fremden Ländern darstellten.
Phantasiereisen, die Habiba die Eintönigkeit ihres engbegrenzten Lebens
ertragen halfen.
    Unter Umgehung der Stapel trat ich ans
Fenster. Es ging auf einen Garten hinaus, der terrassenförmig zur Rückseite des
dahintergelegenen Hauses abfiel — offenbar ein Nebengebäude des Konsulats. Auf
dem Stück dazwischen stand der altmodische Pavillon, in dem sich Habiba
heimlich mit ihrer Mutter getroffen hatte. Eine stämmige Glyzinie rankte sich
einen halben Meter neben dem Fenster die Wand empor — der perfekte Fluchtweg
für ein kleines Mädchen; warum hatte das niemand bemerkt?
    Als ich mich wieder umwandte, streifte
etwas mein Bein. Ein verräterisches Eckchen Papier guckte unter dem Sitzkissen
hervor. Als ich das Blatt herauszog, sah ich, daß es eine Rechenarbeit war.
Obendrüber stand mit roter Tinte die Note A plus. Die Sitzbank war in
Wirklichkeit eine Truhe mit aufklappbarem Deckel; ich hob ihn an und entdeckte
Habibas Schatzkiste.
    Sie enthielt den üblichen
Kinderkrimskrams: Schulzeugnisse und weitere Klassenarbeiten;
Geburtstagskarten, Paßfotos von Klassenkameradinnen und Souvenirs von
Schulausflügen. Abgerissene Eintrittskarten, Theaterprogramme

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