Ein wilder und einsamer Ort
Wollen Sie, daß Ihre Enkelin getötet wird? Das glaube ich nicht. Ihnen
liegt vielleicht nicht besonders viel an Ihrer Schwiegertochter; das haben Sie
ja gezeigt, indem Sie Ihre Trinkerei gefördert haben...«
»Ich habe niemals...«
»Sie haben sehr wohl, und wir wissen
das beide. Der Alkohol gibt Ihnen die Kontrolle über Mavis — und damit auch
über Habiba. Sie müssen sie sehr gern haben, um gegen Ihren Glauben zu
verstoßen. Sie wollen sie nicht verlieren.«
Sie wandte sich ab, die Hände hinter
dem Rücken ihrer dunklen Kostümjacke verschränkt, und ging weiter auf und ab,
rang um Selbstbeherrschung. Nach drei Bahnen über den Perserteppich und zurück,
sagte sie: »Sie scheinen ja eine Menge über die Interna dieses Hauses zu
wissen.«
»Wenn man erst mal einige Fakten kennt,
ist es nicht allzu schwer, sich den Rest zusammenzureimen.«
Latif warf mir einen erschrockenen
Blick zu; seine Augen flehten mich an, nicht zu verraten, wie ich an diese
Fakten gekommen war. Ich nickte ihm beruhigend zu, und er entspannte sich ein
bißchen.
»Wie ich schon sagte«, fuhr ich fort,
»wäre eine Möglichkeit, das Risiko für Habiba auf ein Minimum zu reduzieren,
sie in die Gästesuite des RKI-Gebäudes zu bringen. Diese Räumlichkeiten sind
absolut sicher. Sie sind mit Überwachungsmonitoren ausgestattet, über die die
Bewohner sämtliche Eingänge des Gebäudes sowie die Aufzüge und Flure im Blick
behalten können. Die Kombinationen der Schlösser wechseln täglich, und ich bin
sicher, Mr. Renshaw wird zusätzliche Wachen abstellen, wenn Ihnen dann wohler
wäre. Dort ist jede Menge Platz; Habibas Kinderfrau könnte also mitgehen und
sich um sie und Mavis kümmern...«
»Ich kann nicht zulassen, daß meine
Enkelin über längere Zeit ihrer Mutter ausgesetzt ist.«
»Habiba liebt ihre Mutter; es würde sie
verstören, wenn Mavis hierbliebe.«
Malika Hamid hatte mir den Rücken
zugekehrt. Jetzt drehte sie sich langsam um. »Woher wissen Sie, was Habiba für
ihre Mutter empfindet?«
»Ihre Enkelin ist sehr geschickt darin,
den Leuten zu entwischen, die auf sie aufpassen sollen.«
Mrs. Hamid holte Luft, trat ans
Fenster, zog den Vorhang beiseite und blickte hinaus in den Garten. Was
erwartete sie dort draußen zu sehen? fragte ich mich. Habiba, die sich vom
Konsulatsgelände stahl?
Als sie nichts sagte, setzte ich hinzu:
»Das zweite, was Sie zum Schutz ihrer Enkelin tun können — wenn wir sie erst
mal von hier weggebracht haben —, ist, die Sonderkommission über die früheren Drohbriefe
zu informieren. Mit Ihrer Geheimhaltungstaktik spielen Sie dem Bombenleger
direkt in die Hände.«
»Es reicht, Ms. McCone!«
Jetzt schnellte Latif tatsächlich vom
Sofa hoch. Mrs. Hamid drehte sich um und sah ihn verächtlich an. Er lächelte
verlegen und situationsunangemessen und versuchte dann, seine Konfusion zu
verbergen, indem er sich lässig gegen ein Bücherregal lehnte, auf dem ein
bronzener Pferdekopf stand. Der schielte jetzt über seine Schulter und
erinnerte mich an Mr. Ed.
Mrs. Hamids hochmütiger Blick schwenkte
zu mir herüber. Ich hielt ihm stand und fragte leise: »Wovor haben Sie Angst?«
»Angst! Das ist ja wohl der Gipfel des
Absurden!«
»Es hat mit Dawud zu tun, habe ich
recht?«
Sie wurde blaß und griff sich an die
Kehle. Sekunden tickten dahin. Dann fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen
und ging zum Sofa. Ihr unsicherer Schritt und die vorsichtige Art, sich
hinzusetzen, vermittelten mir ein Bild davon, wie sie sich als alte Frau
bewegen würde. Mit brüchiger Stimme sagte sie: »Mein Sohn ist seit vielen
Jahren verschwunden.«
»Außer, wenn er Sie und seine Tochter
besucht.«
Latifs Augen verengten sich
interessiert. Beide beobachteten wir die Konsulin aufmerksam. Sie sagte nichts,
schloß nur die Augen und lehnte sich zurück.
»Mrs. Hamid«, sagte ich, »bitte lassen
Sie mich Mavis und Habiba von hier wegbringen.«
Sie ließ die Augen zu, schüttelte den
Kopf.
»Wir werden jede weitere Diskussion
vertagen, bis Mr. Renshaw wieder da ist — wenn Sie die beiden gehen lassen.«
Erneutes Kopfschütteln.
»Wenn nicht«, sagte ich, »bleibt mir
allerdings keine andere Wahl, als die Kopien der Drohbriefe, die sich in den
RKI-Akten befinden, persönlich den Leuten von der Sonderkommission zu
übergeben. Sie werden mich gründlich verhören, und ich werde mich gezwungen
sehen, alles über die Situation hier im Konsulat zu erzählen. Und über Dawud.
Und Klaus.«
Ihre Augen öffneten
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