Ein wilder und einsamer Ort
tiefer, fühle aber keine
Panik. Ich will mich in diesem warmen Dunkel verlieren. Das Wasser schlägt über
mir zusammen. Endlich in Sicherheit.
Aber was ist das?
Etwas schwimmt über mir an der
Oberfläche, mit ausgebreiteten Riesenflügeln. Eine Riesenfledermaus.
Ich gleite näher heran, schaue nach
oben. Keine Fledermaus, eine Frau. Die Flügel sind ein Bademantel, der
ausgebreitet auf dem Wasser schwimmt. Und die Augen... leere Höhlen. Ich kann
durch sie hindurchgucken, bis in ihre Seele. Aber dort drinnen ist nur Dunkel.
O Gott, Mavis, deine blicklosen Augen —
Ich fuhr hoch und griff mir an die
Kehle. Mein Herz raste, mein Atem ging in kurzen, rauhen Stößen, und mein
Körper war mit einem Schweißfilm überzogen. Es war gräßlich heiß. Alles an mir
juckte von hundert Insektenstichen. Etwas hatte mich sogar in den Knöchel des
kleinen Fingers gestochen; es fühlte sich an, als hielte jemand ein Streichholz
daran. Gleißendes Licht drang durch die Ritzen der Jalousie am Fenster neben
dem Bett. Ich sah mich um: die schlichten Möbel, meine Reisetasche, meine
abgestreiften Kleider.
Nach einem Weilchen verebbte meine
Panik. Ich stopfte mir die Kissen in den Rücken und fischte meine Uhr vom
Nachttisch. Ein Uhr dreiunddreißig; ich war mitten am Tag aus einem Alptraum
erwacht.
Angst, kein Wunder bei der Aussicht,
mich in unbekannte Wasser zu stürzen, einem unbekannten Ort entgegen, mitten in
der Nacht. Heute nacht, denn ich hatte Cam überredet, mich so bald wie möglich
nach Jumbie Cay zu fliegen. Er hatte sich zuerst schlankweg geweigert, dann,
nachdem wir von unserem Treffen mit Zeff Lash zurückgekehrt waren, stundenlang
mit mir debattiert. Schließlich hatte er erklärt, wenn schon, dann wolle er
mitkommen. Aber das konnte ich nicht zulassen; er stand in Hys Schuld, nicht in
meiner. Die Traumbilder kehrten wieder: ich, ganz allein im dunklen Meer...
Zum erstenmal geriet mein Entschluß ins
Wanken. Ich ließ die Frage an mich heran, ob ich Habiba wirklich einen Gefallen
tun würde, wenn ich sie zu ihrer despotischen Großmutter zurückbrachte.
Schließlich hatte Cam recht: Dawud Hamid war ihr Vater; er hatte ein Recht auf
sie. Aber dann regte sich mein ungutes Gefühl wieder, und ich mußte an
Schechtmann denken und daran, was sich auf seinem streng bewachten Anwesen
möglicherweise abspielte. Ich hatte den Verdacht, daß Malika Hamid nichts von
Schechtmanns Lebensgewohnheiten wußte, daß sie Mavis und Habiba nur mit ihm
weggeschickt hatte, um sie aus der Gefahrenzone zu schaffen. Vermutlich hatte
sie vorgehabt, sie wieder in ihre Kontrollsphäre zurückzuholen, sobald die
Bombendrohung nicht mehr bestand. Aber jetzt, da Mavis tot war und Dawud das
Kind in seinem Gewahrsam hatte, bezweifelte ich, daß er es freiwillig wieder
hergeben würde. Die Kontrolle, die seine Mutter, aus welchen Gründen auch immer,
über ihn gehabt hatte, war in dem Moment, da Habiba Jumbie Cay betreten hatte,
erheblich geschwächt, wenn nicht gar außer Kraft.
Mein Entschluß festigte sich wieder.
Malika Hamid war vielleicht eine tyrannische Person, aber sie liebte Habiba,
und sie war keine Kriminelle. Immer noch besser, die Kleine lebte bei ihr, als
bei ihrem Vater und seinen korrupten Kompagnons.
Als Connors und ich bis in die frühen
Morgenstunden debattiert hatten, hatte er mich gefragt, warum ich mich
eigentlich so für ein Kind engagierte, das ich nur zweimal gesehen hatte. Ich
hatte einfach erklärt, sie sei ein außergewöhnlich nettes kleines Mädchen, das
eine Chance im Leben verdiene, aber das war natürlich nur die halbe Wahrheit.
Seit dem Moment, da ich ihre ernsten Augen über den Rand der riesigen Vase
hatte spähen sehen, fühlte ich mich ihr verbunden. Seit dem Moment, da sie mir
ihre Einsamkeit gestanden hatte, war ich voll und ganz auf ihrer Seite. Ich war
auch ein einsames Kind gewesen.
Wer den McCone’schen Haushalt damals
kannte, hätte das sicher nicht vermutet. Fünf Kinder — zwei ältere Brüder, ich
in der Mitte, zwei jüngere Schwestern. Tanten, Onkels, Vettern und Kusinen, die
zu jeder Tages- und Nachtzeit hereinschneiten. Überall Hunde und Katzen;
Hamster und Gerbils, die aus ihren Käfigen entflohen, zwei Truthähne namens
Gregory Peck und — ein Beitrag meines zu Obszönitäten neigenden Vaters —
Gregory Pecker, die in ihrem Gehege scharrten. Dazu pro Kind noch eine Horde
Freunde in dem weitläufigen Haus, das immer im Zeichen eines großangelegten und
sich letztlich über zwanzig
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