Ein wilder und einsamer Ort
Jahre hinziehenden Renovierungsprozesses stand. Ein
Ort, der einem Bienenstock an einem Junitag ähnelte — wie konnte da jemand
einsam sein?
Das war gar nicht so schwer, wie es
scheinen mag. Ich war das mittlere Kind, und mittlere Kinder werden oft
übersehen. Ich war kein rabaukiger Sohn, hart am Rand der Delinquenz, so wie
John und Joey, und ich war keine rebellische Tochter, hart am Rand der
unehelichen Schwangerschaft, so wie Charlene und Patsy. Ich war vielmehr die,
die keine Probleme machte, die gute Noten heimbrachte, im Cheerleader-Team war
und zum Hofstaat der Abschlußballkönigin gehörte. Oh, da gab es diese eine
schändliche Episode, als ich in einer kompromittierenden Pose mit dem Captain
des Schwimmteams erwischt wurde — laut Mick inzwischen Teil der
Familienlegende. Aber legendär war dieser Vorfall nur deshalb, weil er das
weiße Schaf der Familie betraf. Ansonsten blieb ich, wie John mir einmal
verbittert vorwarf, immer auf der sicheren Schiene.
Auf der sicheren Schiene zu bleiben
macht einsam.
Und außerdem war unter der ganzen
rituellen Umarmerei und Küsserei immer eine gewisse Kälte. Pa war Navyoffizier
und viel auf See; als er in den Ruhestand trat, intensivierte er seine Werkelei
in der Garage so weit, daß er häufig dort auf einem Feldbett kampierte. Ma war
vollauf damit beschäftigt, mit einem äußerst begrenzten Haushaltsetat so zu
jonglieren, daß er die Bedürfnisse von fünf Kindern abdeckte; sie hatte keine
Zeit für unsere Fragen und Probleme und schob sie meistens so lange beiseite,
bis sie entweder unwichtig oder brisant wurden. Ich vermute, daß es dieses
emotionale Vakuum war, das John zu seinen Sauforgien und Prügeleien und Joey zu
seinen Klauereien trieb. Und ich vermute, daß es auch erklärt, warum Charlene
in ihrem letzten High-School-Jahr schwanger wurde und Patsy mit fünfzehn von zu
Hause weglief.
Sicher weiß ich, daß es dieses Vakuum
war, das mich zur Einzelgängerin machte — zu einer Träumerin, die Stunden
allein in dem Baumhaus hinten in unserem verwilderten Garten zubrachte. Dort
spann ich mich immer fester in den Kokon meiner Phantasien ein. Nach der Schule
ging ich nach Berkeley, wo ich niemanden kannte. Ich finanzierte mein Studium
durch einsame Nachtwächter-Jobs. Dann zog ich gleich nach dem Examen von
Berkeley nach San Francisco. Wenn ich hier nicht eines Tages vor der City Hall
meinen Ex-Wohngemeinschaftsgenossen Hank Zahn getroffen hätte, wäre von meinen
Studiumskontakten gar nichts geblieben. Auch als ich für sehr wenig Geld bei All
Souls zu arbeiten begann, lehnte ich das Angebot eines mietfreien Zimmers im
Haus ab, weil ich lieber in meinem winzigen, überteuerten Studio-Apartment
bleiben wollte. Ich hatte meine Liebschaften, wagte mich aber nie so weit aus
der Deckung heraus, daß echte Nähe möglich gewesen wäre.
Aber dann traf ich Hy, der in einem
ähnlichen emotionalen Vakuum aufgewachsen war. Und zusammen fanden wir eine
Lebensform, die für uns beide richtig war.
Jene Jahre vor Hy waren eine
unglückliche Zeit gewesen, aber sie hatten mich einige bittere Lektionen
gelehrt, und die Summe dieser Lektionen ließ mich jetzt um Habiba fürchten.
Wenn sie auf Jumbie Cay blieb, würde sie vielleicht nie wirklich in physischer
Gefahr sein, aber sie konnte seelische Narben davontragen, weil sie Dinge
erleben mußte, die kein Kind erleben sollte. Mit Sicherheit würde sich der
Kokon der Einsamkeit, den sie bereits zu spinnen begonnen hatte, noch
verfestigen. Doch im Gegensatz zu mir würde sie nie die Chance haben, sich
daraus zu befreien. Ihre Welt würde für immer eine wilde und einsame Welt sein.
Und deshalb würde ich heute nacht durch
diese unbekannten Wasser zu einem unbekannten Ort schwimmen. Deshalb würde ich
alles tun, um sie nach Hause zurückzuholen.
Zeff Lash hatte am Vorabend erwähnt,
der alte Mann, von dem Schechtmann Jumbie Cay gekauft hatte, habe eine Tochter,
die nicht gut auf ihn zu sprechen sei und hier auf der Insel lebe. Nachdem ich
geduscht hatte und angezogen war, sah ich im Telefonbuch nach, fand aber keine
Regina Altagracia. Aber vielleicht hieß sie ja jetzt anders, weil sie
geheiratet hatte, und außerdem wußte ich sowieso nicht genau, wo das Princes
Quarter war. Cam war schon früh losgegangen, um selbst einen Charterflug zu
übernehmen, und würde erst nach sechs zurückkommen, also konnte ich ihn nicht
fragen. Als ich im Branchenfernsprechbuch die Rubrik Autovermietungen suchte,
fiel mir die Karte
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