Ein wildes Herz
Glass-Mädchen, keine, die nicht die Tür für ihn geöffnet hätte, ganz gleich, wie fromm sie war.
Doch sie sagten nur Will, was sie an diesem Tag brauchten, und nahmen die Päckchen wortlos von Charlie entgegen, wobei sie wieder einmal bemerkten, wie dünn er geworden war, wie traurig und wie gezeichnet von seiner schändlichen Sünde. Ja, er hatte den Jungen gerettet, doch auch die Mächtigen können tief fallen, und selbst das Göttliche ist manchmal verdammt. Sie waren voller Güte, zumindest dachten sie das, doch vergeben konnten sie nicht. Vielleicht würde Gott es ja tun – dessen waren sie sich gewiss –, doch sie nicht.
Bis Mittag waren die meisten Damen gekommen und wieder gegangen, und Sam kam von der Schule heimgelaufen. Ein Junge hatte auf den Boden gepinkelt, und der Lehrer hatte ihn vor der Klasse ein Baby genannt und ihn für den Rest des Tages auf einem Babystuhl sitzen lassen. Das war so ziemlich das Aufregendste, was in der Schule jemals vorgekommen war, und Sam war nur froh, dass ihm das nicht passiert war.
Zum Mittagessen gab es Schweinekoteletts, in einer gusseisernen Pfanne gebraten. Ned aß mit. Er war verkatert und sah so aus, als könnte er nicht bis drei zählen. Alma versuchte sich ihre Traurigkeit nicht anmerken zu lassen, den Verlust an Respekt und die Wut, die sie im Herzen trug auf diesen Mann, der ihren einzigen Jungen, ihr Fleisch und Blut, von den Toten zurückgeholt hatte, eine Tat, die in ihren Augen noch immer ein Wunder war. Die Männer langten ordentlich zu, sie selbst aß nur wenig.
»Sam? Bist du bereit, die Kühe zu besuchen?«, wandte sich Charlie an den Jungen.
»Will?«, fragte Alma und schaute ihren Mann an. Sie hatten sich doch auf etwas geeinigt, oder?
»Ach, lass den Jungen doch mitgehen, Alma. Es ist ein
schöner kalter Tag, er könnte ein bisschen frische Luft gut brauchen, nachdem er den ganzen Tag in der muffigen Schule gesessen hat.«
Alma eilte zu ihren Schulklassen zurück und ließ das schmutzige Geschirr im Spülstein stehen, wo es ihr später, bei Einbruch der Dunkelheit, so sehr die Tränen in die Augen treiben würde, dass sie sich an der Arbeitsfläche festhalten musste, um nicht hinzufallen.
Am Abend, später, gingen ihr all die Dinge nicht aus dem Sinn, die sie hatte sagen wollen – über Vergebung, über ihre Dankbarkeit darum, dass das Leben des Jungen weitergehen würde, ein Weitergehen, dass alles andere möglich und fast alles andere erträglich machte bis auf das, bis auf ihre eigene Nachlässigkeit. Am Abend konnte sie nur auf das schmutzige Geschirr starren und über all das nachdenken, sich fragen, wie sie denn etwas zu Essen machen sollte, und wie sie überhaupt weitermachen sollten, ein Abendessen nach dem anderen. Und sie konnte nur denken: Es gibt kein Höllenfeuer. Es gibt nur Gnade.
Doch das war später. Nach dem Mittagessen ging Ned nach Hause, um in seinem Krimi weiterzulesen und eine brüchige Diele auf der hinteren Veranda auszutauschen, und Will kehrte in die Metzgerei zurück, um auf Kundschaft zu warten, die nie kam, und so vertrödelte er den Nachmittag, schwatzte mit anderen Ladenbesitzern und wusste, um halb vier Uhr würde er den Laden zusperren und mit Alma den Gottesdienst zu Ehren der Gefallenen des Überfalls auf Pearl Harbor besuchen.
Charlie nahm seine Messer aus dem Laden, Sam holte seinen Baseballhandschuh, den er mittlerweile überallhin mitnahm, bis auf die Schule, wo es nicht erlaubt war. Dann hievte Charlie den Jungen in das Führerhaus des Pick-up
und wartete, bis Jackie neben ihm auf den Fahrersitz gesprungen war. Etwa um halb zwei Uhr fuhren sie aus der Stadt und hörten dabei Radio.
»Beebo, warum hängen überall Fahnen?«
»Weil an diesem Tag etwas Schreckliches passiert ist, Sam.«
»Was denn?«
Wie sollte er das Schreckliche dieser Katastrophe erklären, dieses Knirschen von Metall unter den Bomben, diese Männer, die da saßen wie auf dem Präsentierteller, und dann kommen die Bomber wie aus dem Nirgendwo und spucken Feuer … Wie sollte er erklären, wie viele Mütter und Väter ihre Kinder verloren hatten, und die Rede des Präsidenten im Radio? Wie sollte er die Ausmaße all dessen einem sechsjährigen Jungen erklären?
»Das war im Krieg, bevor du auf der Welt warst. Es kamen einige Flugzeuge, warfen Bomben ab, und viele Menschen sind gestorben.«
Genau in diesem Moment kam ihr Lieblingslied im Radio und zauberte Licht in ihre Herzen, und Charlie und Sam lachten und
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