Ein wildes Herz
ganz genau wusste, was er damit meinte.
Die Kindheit ist der gefährlichste Ort von allen, und niemand verlässt ihn ohne Narben. In Charlies Herz wuchs das Bedürfnis heran, einst nicht zu den Narben in Sams Leben zu gehören und diesem Jungen zu helfen, statt ihm wehzutun.
Umgekehrt erzählte auch Sam Charlie alles. Er erzählte ihm von Will und Alma, von Baseballstars und all den Plätzen auf der Welt, die er anschauen wollte, all den Dingen, über die er etwas erfahren hatte, wenn sein Vater ihm aus der Zeitung vorlas.
Vielleicht lag es ja daran, dass Charlie jünger und jungenhafter war als Will oder näher an seiner eigenen Größe – jedenfalls stellte Sam fest, dass er Charlie Dinge sagen konnte, die er seinen Eltern nicht erzählte, vor allem, was seine Gefühle anging. Will interessierte sich immer dafür, was Sam tat, doch es kam ihm gar nicht in den Sinn, ihn zu fragen, was er dabei empfand, solange der Junge den Eindruck machte, dass er glücklich war, und das war er ja auch. Alles war neu für ihn, jeden Tag, jede Stunde von Neuem.
Ende September rückte die Zeit des Schlachtens heran. Die Schweine wurden schwer, ohne jedoch so fett zu werden, dass ihre Nieren im Fett versanken, die Lämmer standen kurz davor, geschlechtsreif zu werden, und die
Nächte im Tal waren so kühl geworden, dass die Fliegen starben.
Jeden Mittwoch fuhr Charlie zum Schlachthaus, um das Fleisch der Woche abzuholen, und Sam fuhr mit, so wie er auch Will begleitete, seit er laufen gelernt hatte. Angst hatte er nie davor; er wusste, worum es ging, schien der Sache jedoch einfach keine große Aufmerksamkeit zu schenken. Das Töten oder Abhäuten selbst sah er nie, auch sah er nie lebendige Tiere, sondern immer nur die riesigen Seiten Fleisch, die im Kühlraum hingen, und vielleicht hatte er noch gar nicht die Verbindung hergestellt zwischen dem Fleisch, das er sah, und den Tieren, die auf den Weiden grasten.
Wenn sie am Mittwochnachmittag zusammen unterwegs waren, zeigte Sam Charlie jedes Haus, an dem sie vorüberkamen, und sagte ihm die Namen der Familien, die dort lebten, die Hostetters, die Ploggers, die Willards, die Mutispaughs, Namen, die überall in der Gegend zu hören waren, die Namen der Frauen, die jeden Morgen in die Metzgerei kamen, um das Fleisch für den Tag zu kaufen. Sam kannte alle Namen und die Namen der Hunde, und jedes Mal zählte er sie auf, als hätte Charlie noch nie von diesen Leuten gehört.
Bei ihrer allerersten Fahrt zum Schlachthaus zeigte Sam auf ein großes Bauernhaus auf einer Anhöhe direkt vor den Toren der Stadt, das Haus, das Charlie bereits so gut kannte, denn es war ihr Haus. Seine Wuchtigkeit wurde von den filigran geschnitzten Zierleisten, die über der Veranda hingen, aufgefangen. Sam sagte: »Mr. und Mrs. Glass.« Er sprach es »Miz« aus, so wie es hier üblich war. Charlie schaltete herunter, wie er es so viele Male getan hatte, und hielt nach ihr Ausschau, und dann fuhr er weiter, ging seinen Geschäften nach.
Auf dem Weg nach Hause ließ er den Pick-up noch etwas langsamer werden als sonst. Eine blonde Frau stand auf der Veranda, in einem geblümten Hauskleid, das sich in nichts von den Kitteln unterschied, wie man sie sonst so in der Stadt sah, doch in diesem Moment kam eine leichte Brise auf, und das Kleid bauschte sich ein wenig. Dieses Mal folgten ihre Augen ihm nicht, als er vorbeifuhr, und er winkte nicht.
»Das ist Miz Glass«, sagte Sam, und Charlie nickte einfach nur, ohne ein Wort zu sagen. Doch an jenem Abend, nachdem er die Metzgerei abgeschlossen hatte, kaufte er im Laden eine Schachtel Buntstifte und füllte, während er im Bett lag, drei Seiten seines Tagebuchs, indem er solange ihren Namen hineinschrieb, bis er alle vierundzwanzig Farben in der Box benutzt hatte.
Nach einer weiteren Fahrt ins Schlachthaus sagte Charlie zu Will, er sei nicht sehr glücklich über die Art und Weise, wie man dort schlachte, die Methode sei nicht effizient, weil man nicht darauf achte, das Gute vom weniger Guten zu trennen, und als er meinte, er könne das besser, sagte Will, er solle es auf einen Versuch ankommen lassen. Danach nahm Charlie seine Messer mit, und die Fahrten dauerten fast den ganzen Nachmittag, weil Charlie das Schlachtgut zuerst mit einer Metallsäge in der Mitte durchtrennte und dann Teil für Teil mit dem Messer tranchierte.
Auch darüber, dass Will seiner Meinung nach das Fleisch nicht lange genug abhängen ließ, machte er sich Gedanken. Will wehrte sich
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