Ein wildes Herz
öffentlich gemacht: die Fläche des Landes, der Verkaufspreis, wer das Land verkauft und wer es erworben hatte. Am Mittwochabend, wenn die Leute auf ihrer Veranda saßen und Zeitung lasen, redeten sie hinter vorgehaltener Hand darüber. Doch mit Charlie sprach niemand über das Thema. Er war ein Fremder, und Fremde tun seltsame Dinge, und irgendwie schien er in dem Land ihres Countys etwas zu sehen, woran sie nie einen Gedanken verschwendet hatten.
Charlie Beale hatte seine Gründe, doch die behielt er für sich, so wie er alles, was er tat, für sich behielt. Doch es gab einen Grund, und den kannte er tief in seinem Herzen. Einen Grund, sich ein kleines Reich aufzubauen, und damit jemanden zu beeindrucken. Der Grund, der ihn bei seinen Streifzügen immer an einem bestimmten Haus vorbeiführte, hatte einen Namen, und dieser Name lautete seit jenem ersten Tag in der Metzgerei, als sie in einem weißen Leinenkleid sein Leben betreten hatte, Sylvan Glass.
12. KAPITEL
E r hörte ihren Namen überall. Er hörte ihn im Rauschen der Bäume vor seinem Schlafzimmer, während er schlief. Er hörte ihn im Plätschern der Bäche auf seinem Land, im Zischen seiner Reifen auf dem Asphalt. Er spürte ihn wie einen süßen Duft auf seiner Haut, eine Frische in der Luft, die er atmete, wie einen Segen in den Bettlaken, auf die er des Nachts seinen Körper bettete.
Sylvan. Er hatte nie mit ihr gesprochen, hatte ihre Kinderstimme nur ein einziges Mal gehört. Und doch konnte er an nichts anderes mehr denken, und jedes Mal, wenn er an sie dachte, war es wie ein Schlag in die Magengrube.
Er hatte an so vielen Dingen Gefallen gefunden. Daran, wie sich das Wetter änderte, das im Tal immer unvorhersehbar und darin verlässlich war, die Art und Weise, wie sich eine duftende Dunkelheit über das Tal senkte, bis es so schwarz war wie die moosige Unterseite eines Blatts, nur um sich wenige Stunden später wieder im schimmernden Morgenlicht zu erheben, als würde es wieder und wieder neu geboren. Das Geplauder der Männer über Sport oder Jagdhunde oder die kleinen häuslichen Sorgen, das Klacken eines Faustballs auf dem abgewetzten Lederhandschuh eines Catchers. Das alles, so hatte er gedacht, sei genug. Genug, um sein Herz zu erfüllen.
Jetzt jedoch war das Einzige, was ihn von Sylvan fernhielt, Sam Haislett. Wo auch immer Charlie hinging, war Jackie Robinson an seiner Seite, und wo Jackie hinging, war Sam nicht fern. Sein endloses Geplapper war wie Vogelzwitschern, »Beebo, Beebo!«, und Sam wusste viel mehr, als er auszudrücken vermochte, über Prinz Eisenherz, dessen Abenteuer er jeden Tag auf den Comicseiten der Zeitung verfolgte, über Baseball und über das Gewehr, das er bekommen würde, wenn er zehn war – was für ihn noch ein halbes Leben weit weg war und doch gleich um die Ecke, weshalb seine Gedanken auch manchmal einfach losrannten wie ein galoppierendes Pferd. Es war Charlie, der ihn an die Zügel nahm und ihn bremste, nur um ihn dann zu noch mehr Reden anzustacheln. Manchmal fiel Sam ein Wort nicht ein, und Charlie half ihm, es zu finden. Manchmal gingen die Gedanken dennoch mit ihm durch wie ein Zug, der entgleiste, und Charlie musste ihn wieder auf die Spur bringen.
Sam war der Einzige außer Will und Alma, der ihn nicht wie einen Fremden behandelte, sondern ihn einfach so nahm, wie er war. Es berührte Charlie, wie selbstverständlich der Junge nach seiner Hand griff, wenn sie einen Bach überquerten oder einen steilen Hang hochkletterten. Es bezauberte ihn, wie der Junge ihn Beebo nannte, ganz gleich, wie oft er Sam seinen richtigen Namen nannte.
Charlie hatte nie begriffen, worin der Charme von Kindern lag, und er hatte geglaubt, es sei Beständigkeit, die er suchte, wenn er von seinem eigenen Kind träumte, und nicht etwa Kameradschaft. Charlie war einer der Jungen gewesen, für die die Kindheit eine Art Gefängnis war, aus dem er so schnell wie nur möglich hatte herauswachsen wollen, um ein Mann zu werden, doch durch Sam begann er die
Dinge anders zu sehen. Weil Charlie ein Gefangener seiner eigenen Kindheit gewesen war, hatte er nie wirklich aufgehört, selbst ein Kind zu sein. Er merkte, wie leicht es ihm fiel, mit Sam zu reden und ihm alles Mögliche zu erzählen – wo er gewesen war, welche Menschen er kennen gelernt hatte –, denn er wusste, dass Sam ihn niemals verpetzen würde. Er sagte ihm einfach, er müsse alles, was er ihm erzählte, für sich behalten, und sorgte dafür, dass Sam auch
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