Ein wildes Herz
kannte.
»Sam. Pass jetzt mal ganz genau auf, mein Sohn. Wir sind doch Freunde, oder?«
»Klar, Beebo.«
»Weißt du, was ein Versprechen ist?«
»Ja, weiß ich.«
»Ein Versprechen ist ein Geheimnis, das man für sich behält, das man niemandem verrät, und zwar niemals. Verstehst du das? Großes Indianerehrenwort?«
»Ja. Großes Indianerehrenwort.«
»Nicht einmal deiner Mutter und deinem Vater. Verstanden?«
»Ich denke mir manchmal Sachen, die ich ihnen nicht sage.«
»Dann sag ihnen das auch nicht. Sag niemandem, dass wir heute bei diesem Haus angehalten haben. Und sag auch niemandem, dass du gesehen hast, wie ich mit Mrs. Glass gesprochen habe. Es ist wichtig, Sam. Versprich es mir.«
»Klar, Beebo. Ich verspreche es dir. Großes Indianerehrenwort.«
»Wenn du es jemandem, irgendjemandem sagst, hörst du, dann wird mir etwas ganz Schlimmes passieren, und Mrs. Glass vielleicht auch.«
»Kommst du dann ins Gefängnis?«
»Vielleicht. Oder noch was Schlimmeres. Versprich es einfach.«
»Ich versprech’s.«
Charlie ließ den Motor wieder an, und sie fuhren schweigend zur Metzgerei zurück, während Sam sich mit aller Kraft bemühte, das zu vergessen, was er versprochen hatte, niemandem zu verraten. Und als er später auf den Schoß seines Vaters kletterte, hatte er es tatsächlich so gut wie vergessen.
Er verriet so lange niemandem etwas, bis es sowieso keine Bedeutung mehr hatte. Doch in der Stunde, die er im Führerhaus des Pick-ups gesessen und mit Jackie Robinson geredet hatte, war etwas geschehen, etwas, für das er in seinem Denken noch keinen Platz hatte, und manchmal, bevor er einschlief, dachte er darüber nach und wusste, dass er sich an all das ganz genau erinnern würde, bis ins kleinste Detail – an den kalten Nachmittag, an die Funken des Bonbons in Charlies Mund, an das Wort wintergrün, an die Art und Weise, wie sie gelacht hatte, als Charlie durch den Garten auf sie zuging und dabei leise ihren Namen sagte, so wie wenn er Jackie von einem Opossum weglockte, sanft, aber auch drängend, und das entfernte Klicken der Fliegentür, die sich hinter ihnen geschlossen hatte, als sie ins Haus gingen. Und das alles hatte in ihm eine Mischung aus Neugier und einem Gefühl der Einsamkeit geweckt. Es war etwas geschehen, und er war ebenso ein Teil davon, wie man ihn komplett davon ausgeschlossen hatte, und das wühlte ihn auf und machte ihn so ruhelos, dass er nicht schlafen konnte. Und er konnte weder jemanden fragen noch es jemandem erzählen. So viel wusste er.
Ja. Die Kindheit ist der gefährlichste Ort von allen. Wenn wir für immer dort bleiben müssten, würden wir nicht sehr lange leben.
13. KAPITEL
D as ist hier, denkt er. Das ist das Einzige. Dieser Furor in seinem Hirn und diese Sanftheit in seinen starken Händen, die langsam über ihren Körper wandern, die Zartheit ihrer Haut, die Dankbarkeit in seinem Herzen. Dafür, dass sie seine Berührung zulässt, sich ihm öffnet. Nur dies, dieses Beben auf seiner Haut, wie Wind, der über einen Teich streicht, ein silbriges Kräuseln, ein Schimmern der Nerven, ein Röten des Fleisches, eine Glätte überall, die sich von seinen Schultern ausbreitet und bis tief in sein Kreuz ergießt, wo ihre Hände liegen, still wie Kinderhände.
Vor sechzig Jahren, dieses Bett, dieses Haus, diese Stunde der untergehenden Sonne, die rot entflammt und dann langsam zu Lavendel und Blau verblasst, doch hier und jetzt, unveränderlich, unvergessen, etwas, das nie wiederkehrt. Immer etwas, das gänzlich neu erschaffen wird, immer auch der Verlust von etwas, das kostbar war, das sich aufbaut, das bewahrt wird, nur um geschenkt zu werden, ein Geschenk jenseits von Geld, von Arbeit, ein Geschenk jenseits von Habgier oder Diebstahl.
Dieser Überwurf aus Chenille, diese Kissen unter ihrem Kopf, eingebettet in geblümte Baumwolle, ihr blondes Haar, das sich ausbreitet wie goldene Engelsflügel in einem weißen
Garten, das Daunenbett an ihren Ohrläppchen, ihr purpurroter Lippenstift, der seinen Mund verschmiert, seine Schulter, seine Brust. Nur das, sonst nichts.
Ihr geheimes Paaren. Ihre verborgenen Herzen und Leiber, das Kind, das im Pick-up wartet, mit einem angeleinten Beagle namens Jackie Robinson. Das wäre die Momentaufnahme von damals, von vor sechzig Jahren, hätte jemand ein Bild gemacht.
Nichts sonst. Nur dieser Herzschlag, der aussetzt, und auch sein Gegenteil, das Schnellerwerden, so sehr ersehnt, so unerwartet, wenn es kommt, und wie es
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