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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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Schwarz. Sie trug ein schwarzes Wollkostüm, soweit Charlie das erkennen konnte, denn er sah sie nur von den Schulterblättern aufwärts. Das Haar hatte sie unter einem knapp sitzenden Hütchen mit Feder hochgesteckt. Sie drehte sich kein einziges Mal um, grüßte niemanden aus der Gemeinde, und Charlie verbrachte die paar Minuten vor dem Beginn des Gottesdienstes damit, ihren Nacken anzustarren. Sie trug Ohrringe aus schwarzem Jett und war damit die einzige Frau in der Kirche mit Schmuck.
    George McLaughlin begann mit dem Orgelspiel, und ein Junge mit einem Holzkreuz führte den kleinen, etwas kümmerlichen Chor den Mittelgang entlang, gefolgt von Reverend Morgan. Sie alle blickten so angestrengt in ihre Gesangbücher, dass sie wie Blinde gingen. Man sang Fairest Lord Jesus, Ruler of the Morning , und zu seiner Überraschung stellte Charlie fest, dass er Text und Melodie kannte, und so stimmte er in den Gesang ein, allerdings so leise, dass selbst Sam ihn kaum hören konnte.
    Fair is the sunshine, fairer still the moonlight,
and all the twinkling starry host:
Jesus shines brighter, Jesus shines purer
Than all the angels heaven can boast.
    Charlie hatte gedacht, es würde nicht so schlimm sein, in die Kirche zu gehen, und das war es auch nicht. Alles sah so gepflegt und vertraut aus, die Männer schauten gelangweilt, die Frauen aufmerksam, die Kinder wanden sich auf ihren Plätzen, blieben aber still. Er starrte auf Sylvans Hinterkopf,
das ganze Singen und die ganzen Morgengebete hindurch, und dabei flehte er den Herrgott an, sie möge sich herumdrehen und ihn anschauen, ihn oder auch nur eines der viktorianischen Glasfenster mit den Heiligen, damit er wenigstens ihr Gesicht sehen konnte. Doch sie rührte sich nicht. Er zählte die Tage bis Mittwoch, die Stunden, die Minuten.
    Reverend Morgan war groß und dünn und mindestens fünfundsiebzig, und in Brownsburg war er bereits seit dreißig Jahren Priester, sodass jeder in der Gemeinde ihn an Hunderten von Sonntagen die gleichen Gebete hatte sprechen hören. Es schenkte seinen Schäflein Trost  – diese Unveränderlichkeit der Dinge, die immer gleichen Worte, jede Bewegung vorgeplant, das Knien, das Stehen, das gestärkte Weiß der langen Ärmel des Chorhemds, das sich vom Schwarz des Talars abhob.
    Alles in allem also nicht so schlecht. Wenigstens bis zur Predigt. Bevor sie sich dafür hinsetzten, sangen sie noch »Lord Jesus Think on Me«, und Charlie begann sich unwohl zu fühlen, denn auf einmal wusste er wieder, warum er nicht mehr in die Kirche ging.
    Lord Jesus think on me
And purge away my skin;
From earth-borne passions set me free
And make me pure within.
    Charlie fühlte sich nicht unrein. Und von Sünde wollte er nichts hören. Der Anblick von Sylvans goldenem Haar war das einzig Leuchtende in diesem Raum.
    Er schien der Einzige zu sein, dem es etwas ausmachte. Alle sangen das Lied mit ebenso viel Inbrunst wie das erste,
und es ging darum, wie man seine Seele von den Sünden reinigt, die eines jeden Geist und Leben untergraben, jeden Tag, mit jedem Handeln. Während sie sangen, kramten die Leuten in ihren Taschen und Geldbörsen nach Münzen für den Klingelbeutel, der herumging. Charlie legte einen Dollar hinein.
    Lord Jesus think on me
Nor let me go astray;
Through darkness and perplexity
Point thou the heavenly way.
    Sie sangen so inbrünstig, als glaubten sie mehr daran, dass sie vom rechten Weg abkommen würden, als an das strahlende Licht des Morgens. Sie sangen, als würde ihr Leben davon abhängen, damit die Worte des Liedes sie durch den Sündenpfuhl geleiten und in die Arme der Vergebung und der himmlischen Erlösung führten.
    Dann trat Reverend Morgan an die Kanzel, und man sah, dass der alte Mann buchstäblich zitterte  – vor Verachtung, erfüllt von einem Zorn, von einer Wut im Dienste seines Herrn Jesus, die ihn in einem halben Jahrhundert des Predigens niemals im Stich gelassen hatte.
    Für einen so dünnen Mann hatte er eine tiefe, dröhnende Stimme, und man wusste von der Minute an, wo er zu sprechen anhub, dass er es ernst meinte.
    »Die Bibelstelle für unsere heutige Predigt ist aus der Offenbarung Johannes, Kapitel acht, Vers vierunddreißig. Merket auf. Johannes sagt: ›Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.‹ Das hat er vor fast zweitausend Jahren gesagt, doch er hat dich damit gemeint, mein Bruder, und dich, meine Schwester. Auch die Alten und Kinder unter euch. Jeden von
uns hat er gemeint.« Jetzt schaute er

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