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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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sie direkt an, blickte jedem ins Auge.
    Charlie wusste, dass er ein Sünder war. Denn er wusste, auch wenn er es nicht schaffte, den Blick abzuwenden, sondern immer nur Sylvans Hinterkopf betrachten konnte, während er noch immer den Geschmack ihrer Zunge in seinem Mund spürte, dass er mindestens zwei Todsünden beging. Doch das war ihm gleichgültig. Für ihn war es in Ordnung so, und es war ihm auch egal, welchen Preis er dafür würde zahlen müssen.
    »Und das Traurige, liebe Freunde, ist, dass die Sünde Wirklichkeit ist. So wirklich wie der Cadillac eines reichen Mannes, so wirklich wie die Brotkante eines Armen. Sie ist so wirklich wie die Ehefrau eures Nachbarn, sein Land. Und sie ist für immer da. Für immer und immer.«
    Keiner in der Gemeinde rührte sich. Sie waren wie gebannt. Selbst die Kinder waren beim Klang dieser tiefen, schrecklichen Stimme verstummt.
    »Wenn ihr sündigt … und wer unter uns tut das nicht, wer sündigt nicht jeden Tag, auf jede erdenkliche Weise, von dem Moment an, wo wir unsere Augen öffnen, bis tief in den Schlaf, wenn wir uns lüsternen Träumen hingeben? Wenn ihr sündigt, lässt euch Gott nicht im Stich. Nein. Nein. Es liegt nicht in Gottes Natur, euch zu verlassen, ganz gleich, welche Hölle in eurem Herzen brennt, ganz gleich, wie sündhaft eure Träume und wie begehrlich eure Wünsche sind. Nein. Nein. Gott lässt euch nicht im Stich. Wenn ihr sündigt, dann lasst ihr ihn im Stich, den Gott, der euch ohne Grund erschaffen hat und der euch doch gegen alle guten Gründe liebt, ihr verlasst Gott und stürzt euch in den offenen, weit aufgerissenen Schlund der Hölle.
    Wisst ihr denn, was Hölle ist? Hölle, das ist einfach das,
meine lieben Freunde. Hölle ist dort, wo Gott nicht ist. Ihr mögt dort unsägliche Reichtümer finden  – den Cadillac, von dem ihr träumt, oder diese Frau oder jenen Mann, jenes Land voller Reichtümer und Juwelen und Geld, immer Geld, jenes Land, von dem ihr des Nachts träumt mit Lust in eurem Herzen  –, doch Gott werdet ihr dort nicht finden. Gott wartet auf euch. Im Himmel. Gott ruft euch nach Hause. Inmitten eurer Lust und eures Neids und eurer Trägheit und eurer Völlerei haltet inne und lauscht. Und ihr werdet es hören, das verspreche ich euch, Gott verspricht es euch. Ihr werdet es hören, so wie ich es gehört habe.«
    Seine Stimme wurde lauter, fordernder, und sie saßen da, gehorchten der Furcht, die er in ihren Herzen gesät hatte, und der Macht in der Stimme des alten Mannes. Morgan schrie jetzt fast, er war heiser, krächzte, und es war genau so, wie man sich die Stimme des Teufels vorstellte.
    »Es ist Gott. Er ruft euch nach Hause. Heim zu sich. Heim in den Himmel. Die Sünde ist Wirklichkeit. Die Hölle ist Wirklichkeit. Und Gott ruft euch nach Hause. Und was werdet ihr wählen, an jenem großen Tag? Was werdet ihr heute Abend wählen? Morgen? Für immer?«
    Er hielt inne und blickte eine ganze Minute lang die Gemeinde an. Keiner von ihnen, außer Sylvan, hielt seinem Blick stand. Sie schweiften ab, schauten zum Jesuskind in den Buntglasfenstern, auf ihre Hände, kramten in ihren Taschen nach einem sauberen Taschentuch.
    Für Charlie sahen diese Leute um ihn herum nicht nach Sündern aus. Sünder waren geschminkt, sie tranken Alkohol und wetteten bei Pferderennen. Sünder erschossen Menschen. Sünder logen. Sie gingen nicht mit Ruhe und Würde ihren Geschäften nach wie die Menschen, die er in der Stadt oder im County kennen gelernt hatte. Doch offensichtlich
fühlten sich diese Menschen wie Sünder. Sie mussten sich als solche fühlen, wenigstens die zwanzig Minuten in der Woche, in denen Morgan ihnen von der Kanzel die Leviten las.
    Er fragte sich, warum diese Menschen, die so hart daran arbeiteten, ihr Bestes zu geben und ihrem Tagwerk nachzugehen, ohne dabei jemandem allzu sehr zu schaden, das alles hier brauchten  – Woche um Woche angebrüllt zu werden und Woche um Woche gesagt zu bekommen, dass sie am Ende in der Hölle landen würden  –, und warum es ihnen Trost spendete und Kraft gab. Sie begehrten nicht, waren nicht von Neid erfüllt, sie arbeiteten hart und sagten sicher meistens die Wahrheit, denn schließlich lebten sie in einer kleinen Stadt. Sie mussten mit sich selbst und miteinander auskommen.
    Sie sahen beschämt aus  – wofür, fragte er sich. Nach der Predigt sprach die Gemeinde die verbleibenden Gebete wie benommen, und dann sangen alle »Alleluja, Sing to Jesus« für den Auszug aus der

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