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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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»Sollen wir gehen, Sam?« Seine Stimme klang leise und sanft, fast wie die einer Frau. »Hol deinen Mantel, wir gehen.« Die ganze Zeit über ließ Charlie
Mrs. Glass nicht aus den Augen und bemerkte nicht, dass Sam seinen Mantel gar nicht erst ausgezogen hatte.
    Sam fing an, die paar Buntstifte in die Schachtel zu räumen. Charlie schaute sich schnell um. »Halt dich damit jetzt nicht auf. Ist schon in Ordnung. Wir müssen los.«
    Sie gingen zur Tür. Sam wusste, dass er die Comics auf dem Tisch liegen lassen sollte. Die Frau rauchte ihre Zigarette fertig und zog sich in den Raum nebenan zurück. Sie hörten, wie sie langsam die Treppe hochstieg. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet.
    Im Pick-up drückte Charlie Jackie Robinson an seine Brust und küsste ihn auf den Kopf. Dann streckte er sanft die Hand aus und strich Sam übers Haar.
    »Wenn jemand fragt, warum wir so spät dran sind, sag, Mr. Potter sei zu spät mit dem Fleisch ins Schlachthaus gekommen. Okay?«
    »Okay, Beebo.«
    Zuerst sprang der Pick-up nicht an, doch schließlich klappte es. Sie wendeten und fuhren die Auffahrt hinaus. Charlie schaute nicht einmal nach rechts und links, als er auf die Straße einbog, aber es waren weit und breit keine Autos in Sicht, und so passierte nichts.
    An Charlies Hals war ein Kratzer, nicht länger als Sams kleiner Finger, doch am Ende war das Blut zu einer kleinen Kruste geronnen, direkt über seinem Hemdkragen. Sein Mantel stand offen, als würde er die Kälte gar nicht spüren, obwohl der Pick-up ein wenig brauchte, bis er sich aufheizte. Sam zitterte und rieb seine Hände gegeneinander. Nach der Hitze in der Küche war ihm in dem ausgekühlten Führerhaus so kalt, dass er das Gefühl hatte, er würde nie wieder warm werden.

17. KAPITEL

    E r wusste, dass das alles zu dem Versprechen gehörte, das er Charlie gegeben hatte, und zu dem Geheimnis. Er musste es vergessen. Das kostete ihn Mühe, jedes Mal, wenn er sich mit seinen Eltern hinsetzte, doch er durfte einfach nie erwähnen, dass er mit Charlie im Haus der Glass gewesen war, dass er Mrs. Glass’ Plätzchen gegessen und in ihren Comics gelesen und dass er gehört hatte, was er gehört hatte, auch wenn er nicht genau wusste, was das war.
    Doch vergessen konnte er es nicht. Er dachte die ganze Zeit daran. An die warme Küche, das Plastiktischtuch, an die Geräusche von oben, Geräusche, die was bedeuteten? Nein, das konnte er nicht vergessen, und er konnte auch nicht aufhören, Angst zu haben. Angst um Charlie.
    Was, wenn etwas Schlimmes geschehen würde, so wie Charlie es angedeutet hatte? Was, wenn Charlie starb? Wer würde sich dann um Jackie kümmern?
    Nachts, nachdem er seine Gebete gesprochen und seine Mutter ihn im Dunkeln allein gelassen hatte, sah er alles wieder vor sich, es geschah wieder und wieder, und dann fügte er sein eigenes Gebet an Jesus hinzu und betete darum, dass Charlie nicht sterben würde. Wenn Charlie starb, dann würde es seine Schuld sein, das wusste er, denn das
Einzige, was Charlie umbringen konnte, war, dass er das Geheimnis verriet, von dem er wusste, dass er es nicht verraten durfte.
    Und er wollte auch wieder dorthin, wieder und wieder wollte er dorthin, bis er alles wusste und bis er sicher sein konnte, dass Charlie nichts passieren würde. Und so wachte er am Mittwoch immer besonders früh auf und wartete geduldig, während sein Vater ihm aus der Zeitung vorlas und Charlie die Kundschaft bediente, und dann gingen sie nach Hause zum Mittagessen, das seine Mutter jetzt, wo die Schule wieder begonnen hatte, schnell zubereitete, und dann kehrten sie in die Metzgerei zurück, und alles zwischen seinem Vater und Charlie war wie immer, als würde das, von dem Sam wusste, dass es geschehen würde, gar nicht geschehen. Charlie zeigte keine Eile, er ging einfach nur seinen Aufgaben nach, schliff die Messer mit den Griffen aus Rosenholz an Schleifstein und Metzgerstahl so lange, bis sie so scharf waren wie Rasierklingen, und dann endlich sagte er: »Fertig, Sam?«, und Sam antwortete, als wäre das überhaupt nichts, obwohl es eigentlich alles war: »Klar, Beebo«, und dann nahmen sie Jackie Robinson und stiegen in den Pick-up, und dann gingen sie zum Schlachten, was Charlie mittlerweile ganz schnell, aber immer noch sehr sorgfältig und sehr gekonnt erledigte, aber eben schnell, und dann, auf dem Rückweg, fuhren sie wieder in ihre Einfahrt und parkten hinter dem Haus.
    Es war immer gleich, und doch war es immer auch anders.

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