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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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Nächstes passieren würde.
    »Und wenn du keine Lust mehr auf die Comics hast, dann kannst du die hier nehmen …« sie zeigte ihm eine Schachtel mit Buntstiften und einen Zeichenblock, »und uns ein paar hübsche Bilder malen. Möchtest du das?«
    »Ja, Ma’am.«
    »Sam.« Charlie ging neben dem Stuhl in die Hocke. »Mrs. Glass und ich gehen jetzt eine Weile nach oben, also sei ein lieber Junge und mach keinen Lärm, beschäftige dich einfach und iss ein paar Kekse. Denkst du, das ist okay?«
    »Ich glaub schon. Was ist ein Hummer, Beebo?«
    »Das sag ich dir später, auf dem Heimweg. Hab einfach ein bisschen Geduld. Und komm nicht ins Zimmer.«
    Charlie und Mrs. Glass gingen die Treppe hoch, und Sam war mit seinen Bilderbüchern und seinen Plätzchen allein in der Küche. Er hätte glücklich sein sollen, war es aber nicht. Er machte sich Gedanken um Jackie Robinson, draußen in der Kälte. Und er mochte es nicht, in einem fremden Zimmer allein gelassen zu werden, während in einem anderen Zimmer etwas Sonderbares vorging, aber er wusste nicht, was es war. Es fiel ihm schwer, sich die Bücher anzusehen oder von den Keksen zu essen.

    Eine Weile war es ganz still. Dann war etwas durch die Decke zu hören, Stimmen, ein Flüstern, aber keine Schritte. Bestimmt hatten sie sich gesetzt, dachte Sam, und redeten ganz leise miteinander. Vielleicht redeten sie ja über ihn, und dass bereitete Sam Sorgen. Er war höflich gewesen, er hatte über die Ente gelacht, obwohl er gar nicht verstanden hatte, was so lustig daran war, und er hatte ein Plätzchen geknabbert und eine Weile darüber nachgedacht.
    Dann fingen die Geräusche an, zuerst ganz leise, zarte Geräusche, die von der Decke gedämpft wurden und die deshalb noch viel geheimnisvoller waren. Er hörte, dass oben Musik spielte, eine Frau sang. Es war keine Hillbilly-Musik. Es war etwas anderes, weicher, mit anderen Instrumenten gespielt.
    Vielleicht tanzten sie ja. Ganz langsam.
    Er wusste, dass das alles Teil des Geheimnisses war. Und er wusste, spürte es bis unter die Haut, dass er niemandem etwas davon sagen durfte, weder über die Musik noch über die lustigen Bücher mit den seltsamen Bildern, die seine Mutter nicht gutheißen würde, oder dass man ihn in der Küche allein ließ, während der Hund draußen im Auto saß, oder über die Kekse und die Milch. Er begriff, dass er über diesen ganzen Tag mit niemandem sprechen durfte. Er war nicht hier. Sie waren nicht hier, weder Sam noch Charlie oder Mrs. Glass. Das wusste er einfach.
    Er hörte auf zu lesen und zu essen. Er saß einfach nur da. Er saß da und lauschte.
    Manchmal klang es so, als würden Charlie und die Frau lachen. Manchmal klang es so, als tue Charlie etwas weh, und Sams Herz pochte wild vor Angst um ihn. Wenn Beebo etwas zustieß, wie kam er dann nach Hause? Er hörte ein Klacken, das so klang, als würde jemand seine Schuhe auf
den Boden fallen lassen, und dann mehr Lachen und Kichern von ihr. Und dann war es wieder mucksmäuschenstill.
    Doch nur ein bisschen. Er hörte Charlie stöhnen und ein Geräusch, das sich anhörte, als würde eine Frau wimmern, rasch gefolgt von Charlies leiser Stimme, anders, bestimmter, die rasch sagte: »Psst, Sylvan, psst.« Das hörte Sam. Und dann war sie so still, wie es in der Kirche war, wenn sie beteten, so still wie in seinem Zimmer, wenn seine Mutter abends das Licht ausmachte.
    Vielleicht waren sie tot.
    Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, ging die Tür auf und Charlie kam herein. Er sah anders aus, fremd und jung und verschlafen und aufgeregt, alles zugleich. Er hatte die Schuhe in der Hand und setzte sich auf den anderen Stuhl, um sie sich anzuziehen. Während er sie schnürte, blickte er kein einziges Mal zu Sam hoch, und der Junge gab vor, sich die Bücher anzuschauen und an seinen Keksen zu knabbern.
    Sie schauten beide auf, als Mrs. Glass in der Tür stand. Auch sie war barfuß. Ihr Kleid trug sie nicht mehr, nur ein weißes, seidiges Hemd, wie es seine Mutter manchmal unter dem Kleid anhatte. Ihr Gesicht war blass, und das Rot auf ihren Lippen war verschwunden. Ihre Haare bauschten sich wild um ihre Schultern. Sie stand einfach da, in ihrem Hemdchen und dem Armband, und rauchte eine Zigarette, die in einem kleinen, silbernen Halter steckte. Ihre Lippen sahen dick und rund und rosa aus, wie die eines Babys. Sie sagte nichts, zu niemandem, und niemand sprach mit ihr.
    Charlie stand auf, schnallte seinen Gürtel enger und griff nach seinem Mantel.

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