Ein wildes Herz
vielleicht tat er ja auch dem Jungen nichts zuleide, dachte er, vielleicht, aber eigentlich wusste er es besser.
Der Junge, der mittlerweile um sich schlug und schrie, weil er nicht zu Bett gehen wollte, der Junge, der sich mit allen stritt, die ihm in den Weg kamen. Der Junge, der nicht essen wollte und plötzlich maulfaul war, der nicht mehr »Ma’am« und »Sir« sagte, der Jackie Robinson schlug, wenn er nicht folgte, so oft, dass der Hund den Jungen abwechselnd anknurrte und ihm hündisch ergeben war und ihn oft mit einer Mischung aus Angst und Verehrung betrachtete. Das war der Junge, den er geformt hatte, den er und Sylvan aufgezogen hatten, in einer Welt, die sie für niemand anderen errichtet hatten als für sich selbst. Ihre kleine Familie. Das war Sam, seines Vaters Augenstern, die erste, letzte und einzige Frucht seines Stammbaums, der fünf und mittlerweile fast sechs war, und Charlie liebte ihn und wusste nicht,
was er tun sollte, so verloren war er, obwohl er versuchte, ganz normal mit ihm umzugehen, denn ein Gespräch mit dem Jungen war schier unmöglich geworden, und doch brauchte er ihn, er brauchte ihn, weil er Teil des Geheimnisses war, und ihn jetzt zu verlieren, das spürte er, hätte bedeutet, alles aufs Spiel zu setzen.
Charlie versuchte, lieb zu ihm zu sein. Er versuchte, Sam seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken, wie er es früher getan hatte, sich seine endlosen Fragen anzuhören und sich Antworten auszudenken, wenn er keine wusste. Warum war der Mond manchmal groß und manchmal klein? Die Frage hatte ihn in Verlegenheit gebracht, wie so viele Dinge, die einem kleinen Jungen im Kopf herumgehen und die er unbedingt wissen will. Kann ein Reh aus purer Angst sterben, und stirbt ein Kolibri manchmal einfach im Schlaf, ohne einen Grund? Ist für immer eine lange Zeit? Oft hätte er ihn am liebsten in den Arm genommen, doch der Junge war nicht sein Kind, eigentlich war er nicht einmal verantwortlich für ihn, obwohl die Bande seiner Sorge um diesen Jungen ihn so fest umschlossen wie eine Kapsel.
Einmal war ihm der Gedanke gekommen, ein Testament aufzusetzen und alles dem Jungen zu überlassen, doch das war zu einem Zeitpunkt gewesen, als er tatsächlich noch etwas besaß, genug jedenfalls, um dem Jungen ein Leben zu ermöglichen und einen Platz auf der Welt zu schenken. Das war es, was er hatte tun wollen, insgeheim, sodass man erst davon erfahren würde, wenn er tot war, doch das konnte er jetzt nicht mehr tun, diese eine Sache, die er aus reiner Freundlichkeit hatte tun wollen.
Wieder und wieder hatten Alma und Will darüber geredet, dass der Junge ihn nicht mehr begleiten solle, an den Nachmittagen, wenn er ins Schlachthaus fuhr, den Tagen
am Fluss, in dem Haus in den Wäldern, denn mittlerweile wussten sie wie jeder andere auch, dass der Junge alleine herumlungerte, während Charlie sein Schäferstündchen mit Boaty Glass’ Ehefrau hatte, dass Charlie überhaupt nicht angelte, dass er sich beim Schlachten keine Zeit mehr ließ, und dass er um sich herum Zerstörung anrichtete, ohne es zu wollen und letztendlich ohne dass es ihm auch nur etwas bedeutete oder er in der Lage war, sich selbst Einhalt zu gebieten. Sie hatten darüber gesprochen und nichts getan, um es zu stoppen.
Und so geschah es, dass sie, als Charlie zu ihnen kam und eine bestimmte Frage stellte, ja sagten, weil sie gar nicht anders konnten. Wie konnten sie denn nicht einverstanden sein und nicht ebenso wie Charlie denken, dass es dem Jungen vielleicht guttun und ihn wieder auf die rechte Bahn bringen würde, heim zu sich selbst, zu seiner Kindheit und heim zu ihnen, seiner Mutter und seinem Vater?
»Bald hat er Geburtstag«, hatte Charlie gesagt. »Ich möchte eine Party für ihn veranstalten. Ich möchte ihm einfach zeigen, dass es anders geht, und vielleicht bewirkt es ja etwas. Vielleicht wird es seinen Streitereien ein Ende bereiten.«
Und wie hätten sie nein sagen können, wo sie doch wussten, was sie wussten, wo sie doch wollten, was sie wollten, eine Art Rettung, und dass sie den Jungen irgendwie wieder zurückhätten, und dass auch Charlie wieder der Alte wäre, ein Mann, der gerne lachte, der großzügig und liebevoll war, ein Mann, dessen Arme weit offen waren, selbst wenn er die Hände in den Hosentaschen hatte.
Eine Party. Eine Überraschungsparty für Sam, draußen auf der Wiese am Fluss, nur für ihn, denn er wurde sechs; so lange war er schon auf der Erde und würde noch viel länger
auf ihr bleiben,
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